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„Die Verantwortlichen gehören an den Pranger gestellt“

Jurymitglied und Professor für Umwelttoxikologie in Kiel, Otmar Wassermann, über den Sinn des Nordseetribunals in Bremen  ■ I N T E R V I E W

taz: Die chemische Industrie und die angeklagten Regierungen haben ihre Beteiligung am Nordseetribunal mit der Begründung abgelehnt, daß das Urteil gegen sie sowieso im vorhinein feststehe. Haben sie damit nicht recht?

Prof. Wassermann: Das spricht zunächst mal für einen gewissen Erkenntnisstand in der chemischen Industrie, denn damit geben sie ja zu, daß Zustände existieren, die kritikwürdig sind, und daß sich eine Jury in sehr ausgewogener Zusammensetzung wohl kaum einem kritischen Urteil entziehen kann.

Na ja, ein richtiger Freund der chemischen Industrie sitzt ja nicht gerade in der Jury...

...Ist wohl nicht bereit gewesen, zu kommen. Die Einladungen sind rausgegangen.

Sie empfinden das nicht als Schauprozeß?

Wir werden alles tun, um ein Höchstmaß an Objektivität auch „in dubio pro reo“ zu gewährleisten. Nur das wahre Verschmutzungsausmaß ist noch sehr viel schlimmer, als hier an einigen Einzelbeispielen vorgeführt werden kann. Insofern muß ein Urteil sehr scharf ausfallen.

Es fällt auf, daß hier viele Namen genannt werden - Namen nicht nur von Politikern, sondern auch von Betriebsleitern, Sachbearbeitern und einfachen Angestellten. Sollen die sich an den Pranger gestellt fühlen?

Auf alle Fälle. Das halte ich für ein richtiges Prinzip. Man muß verantwortliche Leute mit Namen nennen, damit sie auch öffentlich und persönlich, so wie es früher am Pranger war, angespuckt werden können. Das geht nicht, wenn man immer nur sagt der VCI oder das Ministerium oder die CDU, sondern hier müssen Personen dingfest gemacht werden, die wirklich Entscheidungen unterschrieben haben.

Letztes Jahr hieß es: „Die Nordsee ist tot.“ Dieses Tribunal steht unter dem Motto: „Die Nordsee stirbt.“ Kann das Meer immer weiter sterben, wenn es schon tot ist?

Wenn man sagt, die Nordsee ist tot, dann würde das bedeuten, daß dort kein Leben mehr herrscht. Das ist so natürlich nicht richtig. Es herrscht eine Form von schwer geschädigtem Leben. Das heißt, die Nordsee ist todkrank.

Trotzdem gäbe es den zynischen Konter: Alles halb so wild, weil einem Todkranken eh nicht mehr zu helfen ist.

Darauf wird es rauslaufen. Aber es ist noch ein Restzustand zu retten. Das ist eine moralisch-ethische Verpflichtung.

Die neue Kieler Landesregierung wird auf diesem Tribunal nicht angeklagt. Wollen Sie ihr eine Schonfrist gönnen?

Ja, das ist sicherlich angezeigt. Wenn Sie sich überlegen, daß sie das Chaos einer 30jährigen politischen Monokultur aufzuarbeiten hat, dann wissen ökologisch denkende Menschen, daß dies nur unter übermenschlichen Anstrengungen möglich ist. Immerhin ist Schleswig-Holstein heute weltweit das einzige Land, das einen Fachmann als Umweltminister hat.

Jetzt wird es wieder warm, und die Algen beginnen zu blühen. Gibt es im Vergleich zum letzten Jahr irgendeine Verbesserung der Situation?

Nein, im Gegenteil. Wir müssen das mal mit dem Finanzbereich vergleichen. Wir haben eine Grundverschuldung und wir haben eine Neuverschuldung, nämlich die ständige weitere Zufuhr von Schadstoffen. Selbst wenn die Neuverschuldung abnimmt, nimmt insgesamt die Schuldenlast zu, das heißt die Schadstoffbelastung steigt kontinuierlich an. Aus diesem Grund kann man voraussagen, daß dieser Sommer schlechter werden wird als der letzte. Und so wird es sich von Jahr zu Jahr verschlechtern. Wir haben in diesem Jahr schon Algenpest und faulenden Schaum in Dänemark gehabt.

Interview: Dirk Asendorpf

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