: Schuldig im Namen der „Urmutter des Lebens“
„Nordseetribunal“ klagte Regierungen, Behörden, Industrie und VerbraucherInnen der Meerestötung an / Exemplarisches Verfahren von über 40 Umweltorganisationen / Auch die durchschnittlichen Konsumenten wurden verurteilt ■ Aus Bremen Dirk Asendorpf
„Schuldig!“ So lautete immer wieder die Entscheidung der siebenköpfigen Jury des „Nordseetribunals“. Über 40 Umweltorganisationen, Initiativen und Parteien hatten am Wochenende in Bremen exemplarisch einige Urheber des fortgesetzten Sterbens der Nordsee „im Namen des großen Ozeans, der Urmutter allen Lebens“ angeklagt. Nicht nur Landes- und Bundesregierungen gehörten zu den Angeklagten. Auch Behörden, chemische Industrien und „Herr und Frau Jedermann“ wurden mit den auf mehreren hundert Seiten vorgelegten Ermittlungsergebnissen der UmweltschützerInnen beschuldigt, ihren Teil zum Tod des Meers beizutragen. Als die Jury aus WissenschaftlerInnen, Journalisten und einer Auszubildenden (der ehemalige Verfassungsrichter Martin Hirsch mußte seine Teilnahme aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig absagen) am Sonntag morgen ihren Schuldspruch vortrug, gab es Applaus von den knapp 300 TeilnehmerInnen des Tribunals.
Angeklagte waren nicht erschienen. Sie waren nur symbolisch in Form von leeren Stühlen vor dem Podium der Jury anwesend. Ihre „Pflichtverteidigung“ übernahm Peter Willers, sechsjähriger grüner Landtagsabgeordneter in Bremen und Vorstandsmitglied der „Aktionskonferenz Nordsee“. Aus Politikerreden, Parteiprogrammen und schriftlichen Antworten auf die Einladung zum Tribunal hatte er die üblichen Warnungen vor „Panikmache“ und Verweise auf die Untätigkeit anderer zusammengestellt. So hatte beispielsweise der angeklagte niedersächsische Umweltminister seine „Befürchtung“ ausgedrückt, „daß unprofessionell improvisierte Aktionen wie das Nordseetribunal eher das Gegenteil dessen bewirken, was sie zu bewegen meinen“.
Doch die vorgetragenen Anklagen bewiesen tatsächlich die in den vergangenen Jahren erworbene Sachkompetenz der UmweltschützerInnen. Wissenschaftlich fundiert und mit vielen konkreten Fallbeispielen belegten sie die komplexen Zusammenhänge der Nordseevergiftung. Und auch mehrere Dutzend Namen wurden genannt - nicht nur der verantwortlichen Minister und Politiker, sondern auch die Namen der Sachbearbeiter, zum Beispiel im Deutschen Hydrographischen Institut. So unterschrieben die Herren Goebel, Zickwolff und Ehlers die Genehmigungen für Giftmüllverbrennung auf See. Herr Nussen, Gewerbeaufsichtsamtsleiter in Itzehoe, erteilte eine Ausnahmegenehmigung, damit das Bayer-Werk in Brunsbüttel im dreijährigen Probelauf ein halbes Kilo Seveso-Dioxin in die Luft pusten durfte.
Angeklagt wurde in Bremen aber auch der durchschnittliche Konsument. 20 Kilo schwermetallhaltigen Lack verstreicht er jedes Jahr, 27 Kilo agressives Waschmittel kippt er ins Abwasser, acht Millionen sind Mitglied im Auto-Fanklub ADAC. Das Urteil der Jury: „Schuldig!“
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