Wer kommandiert die Gewehre?

■ Die Zukunft der chinesischen Führung liegt in den Händen der Soldaten

Chinas Volksbefreiungsarmee ist noch nie zur Niederschlagung eines Volksaufstands eingesetzt worden, sieht man einmal von ihrem jüngsten Einsatz in Tibet ab. Aufgrund ihrer Entpolitisierung und Verwandlung in eine professionelle Armee in den letzten zehn Jahren, dürften sich zumindest Teile der Armee weigern, mit Gewalt gegen die zivilen Proteste vorzugehen. Chinas Soldaten sehen sich selbst als Verteidiger der Nation und nicht als Polizei für interne Notstandssituationen. Schon einmal, als die Führung 1976 die Niederschlagung der Demonstrationen gegen die „Viererbande“ auf dem Tiananmen-Platz befahl, verweigerten die Soldaten den Gehorsam mit dem Argument, dies sei nicht ihre Aufgabe.

In der zahlenmäßig stärksten Armee der Welt dienen über drei Millionen Chinesen, davon 1,3 Millionen Wehrpflichtige, die eine Bevölkerung von über einer Milliarde Menschen im Notfall verteidigen müssen. Dem Heer gehören 2,3 Millionen an, 470.000 der Luftwaffe und 300.000 der Marine. Die paramilitärischen Sicherheitskräfte, darunter auch die Polizei, zählen zwölf Millionen Mann. Für den Wehrdienst werden Männer und Frauen zwischen 18 und 22 Jahren eingezogen. Er dauert im Heer drei Jahre, in der Luftwaffe vier und in der Marine fünf Jahre. Der Verteidigungsetat belief sich im vergangenen Jahr auf offiziell 21,5 Milliarden Yuan (11,43 Milliarden Mark), das sind 8,17 Prozent des Gesamthaushalts. Nach einer britischen Untersuchung mit dem Titel Military Balance verfügt das Heer über 9.000 Kampfpanzer, 2.000 Panzerfahrzeuge, 14.500 Artilleriegeschütze und 2.800 gepanzerte Truppentransporter.

Aber die Armee hat in den letzten zehn Jahren auch gelitten. Die Moral ist nach zahlreichen Etatkürzungen, nach denen eine Million Männer demobilisiert wurden, auf einem Tiefpunkt angelangt. Die Generäle der „Alten Garde“ sind von jüngeren Offizieren ersetzt worden. Einstmals Hort des Nationalstolzes und revolutionären Idealismus, ist die Armee zur Fluchtburg der Ungebildeten geworden. Eine chinesische Zeitung beklagte unlängst, daß die einst große Armee des Volkes rasch zu einer Armee der Dummen verkomme. Rekruten, die sich bitter über ihre schlechte Bezahlung - umgerechnet sieben Mark im Monat - beklagen, behaupten, daß Bauern mit dem Verkauf von Hühnern mehr verdienen. Und laut einer Meinungsumfrage haben die Soldaten, die einst begehrte Bräutigame darstellten, heute Schwierigkeiten, Partner zu finden. Davon abgesehen identifizieren sich viele Soldaten der unteren Ränge mit den Zielen der Studentenbewegung, während die militärische Führung in ihren Loyalitäten gespalten ist. Die stärker technisierten Sektoren der Streitkräfte, besonders die Luftwaffe, haben dazu noch von den Reformen Zhaos profitiert. Zhao Ziyang hat in den letzten beiden Jahren auf die Unterstützung der Armee für sein Reformprogramm hingearbeitet; und dies in einem solchen Ausmaße, daß viele vermuten, es könnte im Fall eines militärischen Vorgehens gegen die Demonstranten zu einer Palastrevolution gegen die „Hardliner“ kommen, angeführt von den Teilen der Armee, die Zhao unterstützen.

So hängt die Zukunft der chinesischen Führung derzeit am seidenen Faden. Wenn Li Peng und die Anhänger einer harten Linie die Militärs nicht einsetzen oder ihre Befehle ignoriert werden, dann müßte Li Peng wohl zurücktreten und den Weg für Zhao Ziyang freimachen. Aber auch im Fall eines militärischen Einsatzes wäre Li Pengs Zukunft in Gefahr. Denn käme es in den Straßen Pekings zu einem Blutbad, dann könnte die wütende Gegenreaktion die Entmachtung der alten Führung bringen und vielleicht sogar die Rolle und Existenz der Kommunistischen Partei gefährden. Die Studenten orientieren ihren sorgfältig organisierten zivilen Widerstand am Vorbild Gandhis. Die Hungerstreiks, zur Erregung einer Weltöffentlichkeit sind mittlerweile zu massiven sit downs geworden. Studentenführer haben die Demonstranten, auch für den Fall militärischen Vorgehens, zu rein friedlichem Widerstand aufgefordert. Und es war die Intervention der Studenten, die am Samstag dafür sorgte, daß die bitteren Konfrontationen zwischen Arbeitern und Polizei in den Vorstädten Pekings nicht gewalttätiger ausgingen.

Deng Xiaoping und andere sind sich bewußt, daß sie am Rande eines tiefen Abgrunds stehen. Bis heute haben die Studenten den Ruf nach Abschaffung der Partei bewußt vermieden, dagegen einen Wandel innerhalb der Partei und ein Ende der Korruption und Vetternwirtschaft gefordert. Gewaltsame und blutige Auseinandersetzungen könnten leicht die Forderung nach dem Sturz der Kommunistischen Partei hervorrufen. Obwohl es schwierig ist, den Lauf der Dinge vorherzusagen, scheint ein Ausweg aus der verfahrenen Situation jetzt wahrscheinlicher geworden zu sein. In der letzten Woche war die Protestbewegung noch recht amorph, ohne klare Forderungen und ohne klare Führung. Nun aber haben die Demonstranten ihren Champion: Zhao Ziyang.

Mit seiner Entscheidung, gegen die im Politbüro vorherrschende Meinung zu stimmen, ist Zhao ein großes Risiko eingegangen. Allerdings hatte er auch wenig Alternativen. Da die Führung seine Reformen für das wirtschaftliche Chaos verantwortlich macht, war sein Rücktrittsangebot nur die Vorwegnahme der zu erwartenden Mehrheitsentscheidung. Nun jedoch hat er sich mit einem Schlag vom Ziel der Studentenproteste - das Lob der Studenten für seinen Vorgänger Hu Yaobang, war gleichzeitig Kritik an Zhao, dessen Sohn überdies auch noch der Korruption beschuldigt wurde - in den Retter der Studenten verwandelt. Sein erster Schritt wird nun der Etablierung eines Dialogs mit Studenten, Arbeitern und Regierungsbeamten dienen müssen.