Da verlor der Genosse die eloquente Routine

■ DDR-Parteijugend setzt sich über ideologische Tabus hinweg / Auf Diskussionsforen während FDJ-Treffen werden unbequeme Fragen gestellt / „Warum ist die Vorherrschaft der SED in der Verfassung festgeschrieben?“

FDJ-Treffen '89 in Ost-Berlin. Für ihre „Junge Garde“ hatte die Partei das Zentrum der Hauptstadt freigeräumt. Das Stadtzentrum - ein einziger Vergnügungspark - drei Tage Volksfeststimmung. Der Staat ließ sich die gute Laune seiner Jugend was kosten. Bemerkenswert ungezwungen ging's zu, sieht man von der Eröffnungs- und Abschlußveranstaltung ab, auf denen angesichts offiziellem Pathos und johlend ausgelassener Jugend der Generationsbruch im SED-Staat überdeutlich wurde. Was sich mittlerweile an Unzufriedenheit auch in der Parteijugend angestaut hat, war dann auch nicht auf den Straßen, sondern in den zahlreichen Diskussionsveranstaltungen offenkundig. Über die alten ideologischen Tabus setzen sich die Jungen mittlerweile ohne viel Federlesens hinweg.

„Wie teuer ist uns der Widerspruch?“ war als Thema einer Diskussion vorgegeben. Für den Assoziationshorizont der beiden Podiumsgäste, zwei prominente Professoren, beinhaltete das etwa die bei der Umsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts mangelnde technische Ausrüstung der Studienplätze, die ökonomischen Schwierigkeiten junger Wissenschaftler oder der Mangel an Wohnungen. Doch in solcherart thematischer Eingrenzung wollten sich die Anwesenden nicht aufhalten.

Die jahrzehntelang proklamierte Orientierung an der Sowjetunion - das wurde auch an diesem Nachmittag deutlich macht es kritischen Geistern in der SED-Jugend heute leicht, zu den Problemen vorzudringen, die die DDR noch immer unter der Decke halten will. Selbst weniger mutige Fragesteller können so - unter dem Schutz des großen sozialistischen Bruders - die Widersprüche benennen, die ihnen unter den Nägeln brennen: Demokratie, offene Diskussion, Eingeständnis der Systemmängel in den Massenmedien, Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit, Ausreiseproblematik. Die ganze Palette an Fragen, die sonst eher von kirchlichen und unabhängigen Gruppen in der DDR gestellt werden, kam aufs Podium. Das Konzept, ein wenig mehr Widerspruch zu tolerieren, um ihn so in kontrollierbaren, DDR-verträglichen Bahnen zu halten, scheint mit dieser Parteijugend nicht mehr aufzugehen. Längst ist ihr die Argumentationsstruktur vertraut: Eingrenzung der Reformen in den anderen Ländern aufs ökonomische Feld, Abschottung mit dem Hinweis auf den Vorsprung der DDR. „Wir sehen es nicht gern, wie unsere Freunde uns mit messianischem Eifer marktwirtschaftliche Instrumentarien einreden wollen“, meint der bekannte DDR -Professor Harry Nick. Vom „Anstau an Problemen“ ist die Rede, „den es so in der DDR nicht gibt“.

Da sind viele Anwesenden anderer Meinung: Einer beklagt, daß sich bislang nur die westlichen Massenmedien der Widersprüche in der DDR annehmen. „Wann ist die Öffnung von Presse und Fernsehen in der DDR zu erwarten?“ Oder: „Sind die DDR-Menschen jetzt die Oberlehrer des Sozialismus?“ Warum werden Artikel aus der 'Prawda‘, die sich mit den stalinistischen Aspekten der Komintern befassen, im 'Neuen Deutschland‘ zwar nicht veröffentlicht, aber polemisch abgekanzelt? Spätestens jetzt fällt Harry Nick aus seiner eloquenten Routine, wird nervös und laut, fällt dem Fragesteller ins Wort: „Wir tun da doch recht viel, wir informieren doch darüber“, erklärt er beschwörend die Frage für überflüssig. Und so, als könne er den Informationsdurst mit abstraktem ND-Deutsch stillen, setzt er nach: „Es geht um bestimmte Aspekte der Geschichte der Komintern.“ Die ND -Polemik habe das „im Inhalt angesprochen“. Über „diese komplizierten Fragen“ werde weiter „offen und sachlich diskutiert“.

Im Palast jedenfalls ist mit solchen Floskeln nichts mehr zu gewinnen. Die Professoren antworten immer wolkiger, während die Fragenden jetzt ohne relativierendes Beiwerk und sozialistisches Bekenntnis auskommen: „Mir gefällt das Wahlsystem nicht.“ Die bürgerlichen Demokratien erscheinen ihm da doch demokratischer, meint einer. Ein anderer stört sich daran, daß die Vorherrschaft der SED in der Verfassung festgeschrieben ist, und fügt listig hinzu: „Ich glaube, daß auch die SED bei freien Wahlen führend wäre.“

Nur einer steht an diesem Nachmittag auf, verwahrt sich gegen solche Fragen, in denen „bürgerliche Ideologie“ transportiert werde: „Noch besser können wir es gar nicht machen!“ Besser als an diesem Nachmittag muß es die SED schon machen, will sie nicht auch noch den kritisch-loyalen Rest ihrer Parteijugend aufgeben.

Matthias Geis