Militär unterstützt Reformkurs

Chinas politische Lähmung muß bald zu Ende gehen. Der anhaltende Widerstand der Studenten gegen die Regierung kann nicht ewig weitergehen. Während eine erbitterte Auseinandersetzung innerhalb der chinesischen Parteihierarchie das Land einer handlungsfähigen Regierung beraubt hat, wird es immer wahrscheinlicher, daß das Militär eingreift, um das Patt zu überwinden.

Gestern hat die 'Volkszeitung‘ - die jetzt angeblich unter Kontrolle des Militärs steht - die beiden vermutlich drängendsten Sorgen der militärischen Führung zum Ausdruck gebracht. Der Leitartikel vertrat eine harte Linie - in der Hauptstadt müsse Ruhe und Ordnung wiederhergestellt werden, die Studenten sollten ihre Demonstrationen sofort beenden; in einem Bericht hieß es dagegen, Stalins meistgehaßter Charakterzug sei es gewesen, daß er persönlich das Militär zur rücksichtslosen Unterdrückung des eigenen Volkes eingesetzt habe.

Die Implikationen sind klar: das Militär wünscht ein schnelles Ende des gegenwärtigen Chaos in der Stadt, wird jedoch nicht mit Gewalt gegen den Massenprotest vorgehen. Auch andere Verlautbarungen, die während der letzten beiden Tage Radio- und Fernsehsendungen unterbrachen - beide Medien sollen ebenfalls inzwischen unter militärischer Kontrolle stehen -, brachten die gleiche Botschaft unters Volk.

Marschall Nie Rongzhen, der ranghöchste Offizier der Volksarmee, gab bekannt, er respektiere den Protest der Studenten als patriotische Bewegung und die Armee werde gegen die Demonstranten nicht mit Gewalt vorgehen. Zugleich forderte er jedoch die Studenten auf, „um der nationalen Würde willen sofort auseinanderzugehen“.

Die Verhängung des Kriegsrechts vor vier Tagen bedeutete für die Regierung nicht den Auftrag, Gewalt einzusetzen, ließ ihr jedoch sicherlich diese Möglichkeit offen. Li Peng und die Vertreter der harten Linie hatten wohl gehofft, die Studentendemonstrationen würden angesichts der Macht des Militärs abbröckeln. Aber die Demonstranten nahmen die Herausforderung an und enthüllten ein weiteres Mal die Schwäche der Parteiführung, die damit vielleicht ihre letzte Karte ausgespielt hat.

Es besteht kaum Zweifel, daß die einfachen Soldaten zu den Studenten übergegangen sind. Aber die militärische Führung könnte in der Frage des weiteren Vorgehens gespalten sein, was zur politischen Lähmung des Landes weiter beitrüge.

Wenn Li Peng, was als wahrscheinlich erscheint, dem Militär das Vorgehen gegen die Demonstrationen befahl und zurückgewiesen wurde, bliebe ihm und Deng Xiaoping als offiziellen obersten Befehlshaber nur die Möglichkeit des Rücktritts. Aber inzwischen besteht in der Parteiführung eine tiefe Spaltung.

Während sich die Krise verschärft, warnte 'China Daily‘ gestern, in Peking gingen viele Grundversorgungsmittel zu Ende, bald werde auch die Wasser- und Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen - es wird immer wahrscheinlicher, daß das Militär in irgendeiner Art eingreift, um die politische Ruhe wiederherzustellen.

Zwischen der gegenwärtigen Krise und der von 1976 bestehen viele Ähnlichkeiten. Damals griffen die Militärs in den erbitterten internen Machtkampf nach Maos Tod ein. Sie nahmen die verhaßte „Viererbande“ fest und eröffneten so eine neue Periode der Reform. Wenn sich nicht bald eine politische Lösung abzeichnet, werden die Militärs wahrscheinlich wieder eingreifen und ihre eigene Lösung durchsetzen.

Obwohl es Gerüchte gibt, Li Peng und Deng Xiaoping seien abgesetzt worden, ist es viel wahrscheinlicher, daß das Militär auf ihrem Rücktritt besteht. Deng muß die Möglichkeit erhalten, sein Gesicht zu wahren. Das erscheint als die einzige Möglichkeit, die Ordnung wiederherzustellen. Die Studenten würden dann mit Sicherheit in die Universitäten zurückkehren, zumindest vorübergehend. Solange Li und Deng auf ihren Posten bleiben, werden sie niemals freiwillig den Tienanmen-Platz verlassen.

Dann käme fast mit Sicherheit Zhao Ziyang ans Ruder, mit Unterstützung der militärischen Führung. Schließlich gibt es sonst niemanden, der die deutlich gewordenen Risse in der Partei zu kitten vermag.

Es ist bezeichnend, daß nur sehr wenige Provinzregierungen sich auf die Seite Li Pengs gestellt haben. Bei einigen mag dies bedeuten, daß sie sich ihren Handlungsspielraum offen halten wollen - aber insbesondere die südlichen Provinzen, die aus Zhao Ziyangs jüngsten Wirtschaftsreformen großen Nutzen gezogen haben, wären kaum auf dessen Abgang erpicht.

Sollte Zhao Ziyang in den nächsten Tagen die Macht in die Hände nehmen, wird er wohl als erstes in einen Dialog mit den Vertretern der Studenten, Arbeiter, Intellektuellen und des Militärs eintreten. Daraus werden sich politische Reformen entwickeln.

Der Nationale Volkskongreß, der bald zusammentreten soll, könnte zum Schauplatz für die erste wahrhafte Diskussion über eine demokratische Veränderung des chinesischen politischen Systems werden. Es ist eine Ironie, daß mit Deng Xiaopings Rückkehr zur Macht vor über zehn Jahren die gegenwärtige Phase des ökonomischen Liberalismus begann, aber daß es seines Sturzes bedarf, um die politischen Veränderungen durchzusetzen, die zum Schutz der Reformbewegung erforderlich sind.

Larry Jagan