Peking: Volkstanz auf dem Pulverfaß

■ Machtkampf an der Spitze Chinas / Soldaten setzen die Bestimmungen von Li Pengs Kriegsrecht auch am dritten Tag nicht durch / Nach Ablauf des Ultimatums Montag nacht Freudenausbrüche unter den Studenten / Weiterhin Blockaden gegen die Truppen in der Stadt

Peking (dpa/ap/afp/taz) - Drei Tage nach Ausrufung des Kriegsrechts in Peking war gestern nur eines klar: niemand beachtet ihn, niemand setzt ihn durch. Bis in die Abendstunden schien weder die Führung der Partei noch die Führung des Militärs handlungsfähig. Aber das Machtvakuum in der chinesischen Hauptstadt machte auch deutlich: Der Falke, der die Truppen gerufen hatte, Ministerpräsident Li Peng, kämpft offenbar um sein politisches Überleben. Bereits am Sonntag abend waren die Gerüchte über den Platz des Himmlischen Friedens geschwirrt, Li Peng sei zurückgetreten, Deng Xioaping, Graue Eminenz und Militärchef, sei entmachtet. Die Führung hüllte sich allerdings bis gestern abend in Schweigen. Das Urteil der Beobachter: Machtkampf an der Spitze des Staates.

Die Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens hatten trotz der massiven Präsenz der Volksbefreiungsarmee ihre Demonstration für Demokratie und Reformen auch in der Nacht zum Montag fortsetzen können und so die Machteinbuße von Ministerpräsident Li Peng offenkundig gemacht. Li hatte am Freitag die 27. und 28. Armee in die Hauptstadt beordert und am Samstag früh das Kriegsrecht über Peking verhängt. Gestern kritisierten über 100 Militärs in einem offenen Brief diesen Schritt. Die Armee machte in der Nacht zum Montag keinen Versuch, den Tiananmen-Platz gewaltsam zu räumen. Gerüchten zufolge hätten Truppen den Platz, den die Studenten seit dem 13. Mai besetzt halten, bis 5.00 Uhr morgens Ortszeit freimachen sollen. Als diese Stunde ohne Zwischenfall verstrichen war, brachen die Menschen auf dem Tiananmen-Platz in Freudenrufe aus, tanzten und begannen die „Internationale“ zu singen.

Am Montag morgen reinigten erstmals Putzkolonnen ungehindert den von Abfällen übersäten Platz. Augenzeugen berichteten, daß die rund 3.000 hungerstreikenden Studenten den Platz für kurze Zeit verlassen hätten. Später verlasen Vertreter der demonstrierenden StudentInnen hier und in anderen Teilen der Stadt einen „dringenden Appell“ an die Bürger, „bis zum endgültigen Sieg weiterzukämpfen“. „Wir werden den Kampf nicht beenden, ehe Li zurücktritt“, hieß es auf einem Transparent. Gleichzeitig überflogen ständig Militärhubschrauber den Platz und warfen Flugblätter ab, in denen zur Unterstützung der Ausnahmebestimmungen und der Linie von Li Peng aufgerufen wurde.

In der Stadt, in der sich die Lage im Vergleich zu den Vortagen etwas entspannt hatte, gab es keine Anzeichen für Truppenbewegungen. Der chinesische Rundfunk gab am Montag morgen (Ortszeit) bekannt, der Großteil der Truppen, die den Ausnahmezustand durchsetzen sollten, sei bisher nicht in das Pekinger Stadtgebiet vorgedrungen. Frühere Berichte, nach denen Soldaten bereits zwei Universitäten umstellt haben sollten, trafen nach Augenzeugenberichten, die 'dpa‘ vorlagen, offenbar ebensowenig zu wie Berichte, nach denen am Vortag auf dem Pekinger Hauptbahnhof von Soldaten Tränengas eingesetzt worden sein soll.

Es war unklar, ob sich Teile des Militärs einer möglichen Order zum Vorrücken widersetzt haben. Gestern warteten die Truppen außerhalb des Stadtkerns offenbar auf weitere Befehle. Mehrfach versuchtes Vorrücken der Soldaten wurde bisher von großen Menschenmengen und Tausenden von behelfsmäßigen Straßensperren verhindert. Die Pekinger Stadtregierung wies gestern erstmals auf die zusehends schlechter werdende Versorgung mit Lebensmitteln in der Hauptstadt hin und deutete die Möglichkeit von Strom- und Wasserunterbrechung an.

Erstmals seit Ausrufung des Kriegsrechts erhielten gestern die weiterhin demonstrierenden Studenten Unterstützung von Vertretern der offiziellen Medien. Rund 500 Journalisten von Rundfunk und Presse, allen voran Vertreter des Parteiorgans 'Volkszeitung‘, marschierten zum Tiananmen-Platz. Sie hatten zuvor die ausdrückliche Genehmigung zu ihrer Aktion eingeholt. Auf Transparenten verlangten die Journalisten unter anderem den Rücktritt von Ministerpräsident Li Peng.

In Hongkong, wo sich am Sonntag schätzungsweise eine halbe Million Menschen bei Demonstrationen mit den Forderungen der Pekinger Studenten solidarisiert hatten, erlebte der Aktienmarkt am Montag den größten Kurseinbruch seit dem Börsenkrach im Oktober 1987. Auch auf Taiwan hatten sich in den Straßen von Taipeh Tausende hinter die „Festlandchinesen“ gestellt.

ar Tagesthema Seite 3

Siehe auch Seite 8

Tanz auf dem Tiananmen. Noch ohne Militär

Foto: ap