WENN'S BRECHTISCH HANGELT

■ Im Sägespänetest: „Archaos“ im Tempodrom - „Carl Busch“ am Lützowplatz

Von Raddatz bis Konzack kein Dummdödel, der es nicht schon geschnallt hätte: Im Zeichen von Liberte, Fraternite und Egalite ist mit dem Glasnost-Rubel keine Mark mehr zu machen, die Trendwährung heißt Franc. Also kommt „Archaos“ eben als „ultimatives Spektakel“ daher: als „Cirque revolutionaire“. Das Letzte vom Letzten latinisiert als „ultimativ“ auszugeben, ist dabei schon die oberhohe Kunst der Prell- und Prahlistik, und damit hat sich die ganze Zirzensik eigentlich auch schon.

Zugegeben: in den letzten zehn Minuten der 24 Mark rappelt's dann doch noch im Karton: Da stürzt eine Schlappseilartistin aus der Zirkuskuppel, sausen Männer an langen Gummibändern in die Manege, dröhnt ein PS-potenter Bock in die Höhe, und überall brennt's; da gröhlt der Teen-, und der Twenager wundert sich. Aber das pyromantische Finale von „Archaos“ muß man sich erst einmal knochenhart ersitzen. Denn das ganz Andere am als anders gepriesenen Zirkus, das chaotisch Revolutionäre der Archaik sozusagen, besteht nämlich darin, gähnende Langeweile einmal nicht zentral von der Manege aus zu organisieren, sondern gleichsam von den Rändern her frei zu entfalten.

Während unten also ein mehr oder minder laues Varietenümmerchen nach dem anderen verrinnt, klettern und hangeln rings und oben ein paar Underdog-Akteure in einem sozial gemeinten Netz herum, rappeln müde an den Seilen und biedern sich mit brutaler Unaufdringlichkeit der Interpretation an, von wegen „die im Dunkeln...“ und so. Einer, der dieweil im Licht steht, versucht gerade zum xten Mal, mit einem dialektisch-bourgeoisen Golfbällchen äußerst zwerchfellschonend das Zentrum der Komik in der Hirnanhangdrüse des Publikums zu treffen, was wieder nicht klappt, aber auch nicht weiter schlimm ist: Wir denken ja, also amüsieren wir uns. Dafür steckt sich jetzt eine Gladiatorin einen lebenden Hahn in den Mund, und weiter vorn wird ein gebärfreudiges Becken am Stufenbarren gequält, während irgendwelche Kerle ein paar Zuschauerbänke demontieren. „Archaos“ kreiert eine düstere Vision davon, wie es einmal aussehen könnte, wenn Jerome Savary und Pina Bausch in puncto Zirkus gemeinsame Sache machten: Da rollt fern vom Publikum eine kollektiefsinnige Dämmershow mit voyeuristischem Highlight vor sich hin, ganz viel Mortale um sich verbreitend, die sich vor dem dazugehörigen Salto irgendwie drückt, eine kalkuliert proletarische Inszenierung, deren Aufführungsort mehr der Überbau ist als das Zirkuszelt. Und es zieht so fürchterlich, weil dauernd die Hintertür zur Kunst offen steht.

Der qualledicke Papa Scholl vom Zirkus „Carl Busch“ hat da wohl einen ganz anderen Begriff von Archaik. 15.000 Mark muß er täglich irgendwie reinholen, um seine Bären, Löwen und Lamas am Kacken zu halten, ganz zu schweigen von den übrigen 80 GesellInnen, die, überwiegend verteilt auf drei familiäre Hauptzellverbände, für den täglichen Atemraub sorgen müssen. Wer sich da als Zielgruppe nicht gerade die „Black & Decker“ -fixierte Generation ausgesucht hat und unter Zirkus nicht unbedingt die Vermarktung von Traumkonfektion Marke Salome und Roncalli versteht, der muß eben abends auf der Hornhaut seines Zahnfleisches die Manege betreten und dennoch strahlen wie das beste Paradepferd im Stall. Und da, auf dem hartgestampften Boden fängt die Arbeit erst richtig an, nämlich dieser von allem Möglichen ausgeleierten Welt doch noch ein kleines Stückchen Unmögliches abzuringen, oder umgekehrt: in unserer hirnlos durchkalkulierten Dauerkatastrophe allseitiger Unmöglichkeit plötzlich doch noch mit einer Winzigkeit an Möglichem zu erschrecken. Und zwar live und mit jeder Nummer neu. Bei Busch kommt immer noch der Salto vorm Mortale, und zwar dreifach und rückwärts gesprungen auf dem Seil, und ein interpretationsbedürftiges Netz ist nirgends zu sehen. Am Lützowplatz ist alles handgemacht und muß von selber tragen. Und alles ist dabei: Fliegen, Springen, Drehen, Schweben, Fallen und Straucheln. Wie am Anfang aller Tage werden die ganz alten Menschheitsträume von der Aufhebung der Naturgesetze aufgerollt mit einer Konzentration, einer Schönheit und einer Freundschaft zum Publikum, als werde jetzt gleich und nur hier im Zirkus die Welt erlöst. Die letzte Herausforderung dabei nehmen Papa Scholls Söhne an: als Kalle und Alfredo Schollini haben sie schon allein namentlich alles Irdische hinter sich gelassen und kreisen jetzt in einem riesigen Todesrad durch den gesamten Zirkus; und wenn man dann beim Zusehen selber schon dreimal abgestürzt ist, mit zerschmetterten Knochen und verrenktem Genick verbogen in den Sägespänen liegt, dann steht das Gerät plötzlich still und oben steht Alfredo Tarzan im Rad und spielt ganz leise Trompete. Ist das Zirkus? Das ist Zirkus.

R.M.B.

„Archaos“ spielt noch bis zum 11.6. im Tempodrom.

„Carl Busch“ spielt (voraussichtlich) bis zum 25.6. am Lützowplatz.