Unfähig zur Abrüstung

■ Der Nato-Raketenstreit und der neue Gorbatschow-Vorschlag

K O M M E N T A R

Ist der Raketenstreit eigentlich nur ein Spektakel für die Medien und atomwaffen-müde bundesdeutsche Öffentlichkeit? Über das Papier, das Herr Stoltenberg aus den USA mitgebracht hat, kann man sich nach dem ganzen Aufstand der Bundesregierung nur verwundert die Augen reiben: die USA zeigen, wer der Herr im Hause ist, und die Bundesdeutschen spielen mal wieder den Musterschüler. Weil CDU und FDP wissen, daß mit einem nationalistisch gefärbten Anti -Amerikanismus in der Bundesrpeublik mittlerweile Wählerstimmen zu holen sind, maulen sie noch ein bißchen herum. Aber faktisch hat sich die Kohl-Regierung der amerikanischen Position gebeugt: das Gesicht dürfen die Bundesdeutschen wahren - die USA haben Verhandlungen über atomare Kurzstreckenwaffen im Prinzip akzeptiert - aber dieses „Zugeständnis“ besitzt keinerlei Relevanz.

Statt wie bisher „baldige“ Verhandlungen zu fordern, will auch die Bundesregierung erst dann verhandeln, wenn bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Waffen „Fortschritte“ erzielt worden sind. Die USA wollen sogar, daß zuvor ein Abkommen unterzeichnet und umgesetzt ist. Das zeigt, wie wenig die USA an diesen Gesprächen interessiert sind. Verhandlungen würden damit bis ins nächste Jahrtausend verzögert. Selbst wenn die USA sich auf das nebulöse Wort „Fortschritte“ einließen: einer amerikanischen Administration, die in der Nato und in Bezug auf die UdSSR einen konfrontativen Kurs verfolgt, werden die „Fortschritte“ nie weit genug gehen.

Hinzu kommt - und das geht nahezu unter - daß die Bundesregierung sich von den USA auf eine Absage an eine dritte Null-Lösung festlegen ließ. Noch Mitte April wollte der von der SPD so gelobte Außenminister nicht ausschließen, daß die (landgestützten) Kurzstreckenwaffen ganz und gar beseitigt werden. Davon war bei Genscher jetzt keine Rede mehr.

Damit scheint der Raketenstreit den üblichen Verlauf aller NATO-internen Konflikte zu nehmen. Es geht nur noch darum, einen längst brüchig gewordenen Konsens über die Abschreckungsstrategie politisch zu demonstrieren. Die Pershing II wurde 1983 nur noch aus politischen Gründen stationiert, und so wird es wohl auch mit den Kurzstreckenwaffen kommen. Allein wegen ihrer unterschiedlichen geographischen Lage sind die Nationalstaaten diesseits und jenseits des Atlantiks unfähig, sich auf eine gemeinsame Interpretation ihres Abschreckungskonzepts zu einigen.

Die wachsende ökonomische Konkurrenz zwischen EG und USA und die Frage, wie auf Gorbatschow zu reagieren ist, bringen alte Widersprüche erst richtig zum Tanzen. Das heißt, daß sich widerstreitende Interessen der Nato-Staaten in der Rüstungskontrolle immer gegenseitig blockieren. Die Nato ist also aus strukturellen Gründen zur Abrüstung unfähig. Und die USA haben mit den hier stationierten Truppen und dem irrsinnigen Konstrukt der „Atomgarantie“ immer einen Hebel zur Disziplinierung der Bundesdeutschen in der Hand. Und das funktioniert eben immer noch - wenn auch nicht mehr reibungslos. Die Nato ist so eng mit dem Gründungskonsens der BRD verwoben, und auch eine SPD-Regierung hätte wohl genauso gekuscht. Und in der BRD gibt es derzeit keine gesellschaftliche Kraft, die quer und sperrig bleibt, sich grundsätzlich gegen alle Abschreckungskonzepte stellt, und mit dem Beharren auf einer Strategie der Einseitigen Abrüstung tiefere Brüche in der Nato provoziert.

Diesen Part spielt heute nur noch Gorbatschow. Es ist faszinierend, wie er in diesen Nato-internen Zwist hinein ein sensationelles Angebot für die konventionellen Verhandlungen plaziert. Wenige Tage vor dem Nato-Gipfel malt Gorbatschow die von Kohl gewünschten „Fortschritte“ an die Wand. Und sorgt so wieder für einen hübschen Legitimationsdruck. Also doch kein Ende im Raketenstreit?

Ursel Sieber