UdSSR: Große Spannung vor Volkskongreß

■ Die politische Formierung hat begonnen / Noch gibt es keine Fraktionen bei den 2.250 Volksdeputierten in der UdSSR, dafür eine politische Differenzierung / Jelzin will Tagesordnung der Sitzung ändern und die Staatspräsidentenwahl verschieben

Berlin(ap/afp/taz) - In der Sowjetunion steigt wieder die politische Spannung: der Kongreß der 2.250 Volksdeputierten, die seit dem 26. März von der Bevölkerung gewählt wurden und die aus ihrer Mitte die 452 Abgeordneten des neuen Obersten Sowjet wählen sollen, wird mit heftigen politischen Auseinandersetzungen eingeläutet.

Wenn am Donnerstag die Volksdeputierten zusammentreffen, werden sich mehrere politische Strömungen offen herauskristallisieren. Schon jetzt zeigen sich die Fraktionen. Konservative, Nationalisten, Reformer und Pragmatiker sind dieser Tage dabei, ihre politischen Ziele für den Kongreß abzustecken. Und auch die politische Führung der Partei ist dabei, dem Kongreß ihren Stempel aufzudrücken.

Aus einer vorbereitenden Sitzung des ZK am Montag empfahlen die ZK-Mitglieder den Volksdeputierten, Michail Gorbatschow zum Staatschef zu wählen. Dieses Vorhaben, vor Monaten auch unter Reformern nur verhalten kritisiert, hat jetzt zu einer heftigen politischen Auseinandersetzung geführt. Boris Jelzin, das ehemalige Politbüromitglied und Wahlsieger von Moskau, hatte das Startsignal für die Kritik gegeben. Auf einer Versammlung vor 30.000 Menschen am Sonntag in Moskau warnte er vor der Machtfülle, die Gorbatschow, der ja noch Parteichef und seit dem 1. Oktober auch Präsident ist, dann in Händen halten würde und verglich dessen künftige Stellung mit der Stalins. Andere Wortführer sehen diese Gefahr ebenfalls, doch wie Andrej Sacharow sprechen sie sich für die Wahl Gorbatschows und gegen die Kandidatur Jelzins aus.

Andere, auch zu den Reformern zu zählende Persönlichkeiten sehen gerade in der Machtfülle Gorbatschows die Garantie dafür, daß ein konservativer Gegenputsch scheitern muß und erinnern an den Sturz Chruschtschows im Jahre 1964. Offiziell steht die Tagesordnung für den Kongreß noch nicht fest, die radikaleren Reformer, zu denen auch die Delegierten aus den baltischen Ländern, den Volksfrontkandidaten aus Weißrußland und die intellektuelle Elite Moskaus gehören, lassen über die Kungeleien im ZK und die Geheimhaltetaktik ein vernehmliches Murren hören. Jelzin hatte im Sinne vieler dieser Delegierter schon angekündigt, er wolle in jedem Fall auf der Sitzung das Wort ergreifen und je nach Bedarf die Änderung der Tagesordnung fordern. In einem Brief an Gorbatschow forderten zahlreiche Deputierte die Änderung der Tagesordnung. Zuerst müsse über über die Reformen diskutiert werden, dann über die Tagesordnung. Der neue, mit größeren Vollmachten ausgestattete Staatspräsident dürfe erst gewählt werden, wenn alle Redner zu Wort gekommen seien.

Politische Beobachter trauen dem Reformerflügel 30 Prozent im neuen Gremium zu, doch differieren die Meinungen gerade bei denen, denen das Tempo der Umgestaltung zu langsam vor sich geht. Es gibt wohl außerhalb der politischen Führung kaum jemanden, der die wahren Kräfteverhälntisse einzuschätzen weiß. Wenn, wie durch einen Leserbrief in der 'Sowjetskaja Industriaja‘ bekannt wurde, Deputierte aus Sibirien von ihrem Parteichef im vornherein zu Kandidaten für die Wahl des Obersten Sowjet vorgeschlagen wurden, ist zu vermuten, daß die Mehrheitsverhältnisse abgesteckt sind. Doch wie so oft, könnte die politische Entwicklung in der UdSSR auch diesmal für Überraschungen sorgen.

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