129a wird zum „Kontaktschuld„-Paragraphen

Im Stammheimer Prozeß gegen Uli W. erfindet die Bundesanwaltschaft die „terroristische Gesamtorganisation“ / Vage Indizien  ■  Aus Stuttgart Hartmut Zeeb

Nach dem siebten Verhandlungstag in dem 129a-Prozeß gegen Uli Winterhalter in Stuttgart-Stammheim zeichnete sich auch gestern immer deutlicher ab, daß der Vorsitzende Richter des 5.Strafsenats am Oberlandesgericht Stuttgart den wegen „Unterstützung der RAF“ angeklagten 31jährigen Fernmeldeelektroniker weiterhin hinter Gittern sehen will. Das Gericht stützt sich dabei auf eine vage Indizienlage. Die organisatorisch-personelle Einbindung in die RAF wird gar nicht mehr behauptet. Dafür nimmt die Bundesanwaltschaft (BAW) die Existenz einer „terroristischen Gesamtorganisation“ an, um eine nichtmaterielle „Meta„ -Mitgliedschaft zu konstruieren. So muß Uli W. mit bis zu drei Jahren Haft wegen Unterstützung rechnen.

Zum einen soll der Angeklagte Anschlagsobjekte ausgespäht und Depots angelegt haben. Auf einer Wanderkarte hatte er während eines Nato-Manövers Standorte von Pershing-Raketen eingezeichnet, anhand derer die Friedensbewegung die Bevölkerung auf die unmittelbare Bedrohung aufmerksam machen wollte. Eine Sammlung von jedermann zugänglichen Zeitungsausschnitten und Flugblättern zu Themen des antiimperialistischen Widerstands und der RAF wird als Fortsetzung eines Archivs des als RAF-Mitglied verurteilten Karl Friedrich Grosser interpretiert. Selbst das Gericht mißt diesen beiden Punkten inzwischen eine peripherere Bedeutung zu. Eine Schlüsselrolle spielt dagegen weiterhin der Besitz mehrerer Ampullen des Betäubungsmittels Ketanest. Zu diesem Punkt erklärte der Angeklagte gestern, das Medikament gemeinsam mit „haushaltsüblichen“ Schmerz- und Kreislaufmitteln für Palästina gesammelt zu haben.

Für die Version der BAW, Uli W. habe das Narkotikum „für Zwecke oder im Auftrag und mit Wissen von Mitgliedern der RAF“ aufbewahrt, gibt es keinen Anhaltspunkt. Das OLG versucht nun, über vorhandene Briefkontakte Uli W.s zu Eva Haule und Christian Klar einen Zusammenhang zur angeblich beabsichtigten Verwendung des Narkotikums durch die RAF herzustellen: In einer durchsuchten Wohnung der französischen Action Directe, in der auch Ketanest sichergestellt worden war, wurde ein angeblich von Eva Haule stammender Brief entdeckt, in dem auf die Wirkung des Medikaments hingewiesen wird. Und daß Uli W. und Eva Haule gemeinsame Bekannte hatten, gilt als sicher. Die Behauptung der BAW, das Medikament eigne sich besonders gut zur schnellen Betäubung von Enführungsopfern, muß aber nach der Befragung eines Pharmazeuten als widerlegt gelten: Die Zeit bis zum Eintreten der narkotisierenden Wirkung beträgt demnach mindestens acht Minuten. Diese Erkenntnis scheint freilich die Anklagevertreter wenig zu beeindrucken immerhin bliebe von der Anklage wenig, wäre der Vorwurf der Beschaffungstätigkeit nicht mehr zu halten. Die Verteidigung will nun mit einem Beweisantrag erwirken, daß ein Vertreter von medico international als Zeuge hinsichtlich der nichtöffentlichen Sammlung von Medikamenten für Palästina geladen wird. Außerdem soll der ständige Vertreter der PLO in Bonn, Abdallah Franghi, über die Versorgungssituation in den besetzten Gebieten Palästinas aussagen.

Die Verteidiger Kugler und Jansen haben der BAW mehrfach nachweisen können, daß sie ihrer Pflicht, „auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln“ (Paragraph 160 (2) Strafprozeßordnung), nicht nachgekommen ist. Die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, durch Prozeßbeobachter ständig vertreten, bemerkte in einem Statement: „Der Verteidigung wurde keine vollständige Akteneinsicht gewährt. (...) Von der Verteidigung wurde auch unwidersprochen moniert, daß die Akten kaum vollständig sein könnten und daß die BAW dem Gericht wohl auch nicht alle Akten vorgelegt habe (...).“ Daß der 5.Strafsenat sich damit zufriedengibt, führt den rechtsstaatlichen Grundsatz der Gewaltenteilung ad absurdum und darf als Indiz für die Befangenheit gewertet werden.

Das Verfahren gegen Uli W. kann, nach der Ansicht von Verteidigern und Prozeßbeobachtern, nur im Rahmen einer projektierten Ausweitung des 129a auf den gesamten sogenannten antiimperialistischen Widerstand begriffen werden. Über die politische Identität des Angeklagten wird ein faktisch nicht vorhandener Kontakt zur RAF konstruiert. Macht dieses Vorgehen Schule - und alles spricht dafür -, kann sich jeder strafbar machen, der sich mit Inhalten linksradikaler Politik beschäftigt und Dinge besitzt, die „Terroristen“ nützlich sein könnten. Verteidiger Jens Jansen bezeichnet diese neue Qualität der Rechtssprechung als „Kontaktschuld“: „Es genügt, jemanden zu kennen, der jemanden kennt, der später als RAF-Mitglied verurteilt worden ist...“ Die Hauptverhandlung wird bis 30.Mai fortgesetzt.