Mittelklassenkampf auf der Avus

■ Seit Donnerstag ist Berlin geschwindigkeitsbegrenzt / Folge: Breite Auto-Mobilisierung

Seit sechs Tagen demonstrieren in West-Berlin jeden Abend Hunderte von behelmten Motorrad- und blechvermummten AutofahrerInnen gegen die Einführung von Tempo 100 auf der Avus. Die vom neuen rot-grünen Senat gefällte schnelle Entscheidung für eine langsamere Grunewald-Autobahn mobilisiert ein bisher in der deutschen Demo-Metropole völlig unbekanntes Protestpotential. Eine Bürgerinitiative wehrt sich heftig gegen die Beschränkung von „menschlichen Grundbedürfnissen“.

„Versucht doch, in den nächsten Tagen zu Hause zu bleiben“, mahnt Thomas Seidel, frischgebackener Bürgerinitiator gegen das Tempolimit auf der Berliner Avus die Getreuen am fünften Abend beim Treffpunkt am Stauraum zum Grenzübergang Dreilinden. Allein, sie können es einfach nicht lassen. Wieder und wieder treibt es sie hinaus auf die Straße: Auto und Motorradfahrer gemeinsam - das hat es selten gegeben.

Doch „die Sache“ rechtfertigt diese ungewöhnliche Koalition von Zwei- und Vierrädern: Am Donnerstag letzter Woche hatte der neue rot-grüne Senat - gemäß der Koalitionsvereinbarung

-auch auf dem letzten unlimitierten 6,5 Kilometer langen Teilstück der ehemals schnellsten Rennstrecke der Welt quer durch den Grunewald Tempo-100-Schilder aufstellen lassen.

Die geradewegs auf den Transitgrenzübergang zur DDR führende Autobahn war die letzte Sackgasse der Freiheit von jedwedem staatlichen Zwang im nichtsozialistischen Teil Berlins. Und während jenseits der Mauer auf den Autobahnen schon immer Tempo 100 galt, hat man im Westen nicht viel Verständnis für die Einführung des deutsch-deutschen Einheitstachos, dessen Nadel fortan verfaulen soll, sobald sie die 100 überschreitet.

Am Donnerstag abend trafen sich deshalb „ganz spontan“ rund 500 Motorräder und über 1.000 Autos in Dreilinden, um von dort aus unter wildem Hupen mit heulenden Motoren, quietschenden Spontanbremsungen und irrlichternden Warnblinkanlagen in Richtung Innenstadt zu rasen, um so ihr (Kfz-)verbrieftes Bürgerrecht auf öffentlichen Protest wahrzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt - vor nunmehr schon sechs Tagen - war man im demotechnischen Bereich freilich noch ziemlich unerfahren. Kein einziges erläuterndes Transparent zierte die Opels und Fords, dafür aber süße Stofftiere, reizende Mädels und stramme Burschen, die ihre strotzende Kraft lediglich durch Sicherheitsgurte freiwillig zügelten. Allein - der aufmerksame Kurfürstendammpassant konnte nur ahnen, worum's überhaupt ging, und fühlte sich durch die Demonstration eher lärm- und gestankbelästigt statt autosolidarisch. Schon machte das Vorurteil von den „Chaoten auf Rädern“ die Runde. Doch im Gegensatz zu den Kreuzberger Kollegen sucht der engagierte Autist den Dialog mit der Bevölkerung, ist lernfähig und ausdauernd.

So akzeptiert man mittlerweile das polizeiliche Sirenenmonopol, distanziert sich nachhaltig von jeder Gewalt gegen unbeteiligte Ohren und setzt auf „Argumente“. Um „Krawalle zu vermeiden“, verzichtet man sogar auf so prekäre Fahrziele wie das Funkhaus des Rias, der „freien Stimme der freien Welt“. Auch hier setzt man auf Deeskalation bei der Verfolgung des „Nahziels, eine gute Presse zu bekommen“, die miserabler in den letzten Tagen nicht hätte sein können.

War man vor Tagen noch des Flugblattverfertigens völlig unkundig, so hat man jetzt die Segnungen moderner Technologien wie des Fotokopierers entdeckt: Statt langweiliger Kommandoerklärungen setzt man jedoch auf einprägsame handgeschriebene Sprüche wie: „Mit den Grünen unterm Schweller / geht‘ s auf der Avus wieder schneller“, die auf fotokopierten Blättern die Scheiben zieren. Auch was die Geduld zum langen Marsch betrifft, ist die Autoavantgarde den Kreuzbergern um Wagenlängen voraus: Während gegen das „Schweinesystem“ gewöhnlich gerade mal eine Nacht lang Front gemacht wird, sitzen in den Hecks der unaufhaltsam rollenden 5.Autokolonne des ADAC Kämpfer und Kämpferinnen, die alle Abende wieder ihre kostbare Freizeit opfern und entschlossen sind, bis zum letzten Tropfen Benzin zu kämpfen: „Ich fahre hier solange jeden Abend mit, bis wir unsere Forderung nach Aufhebung des Tempolimits durchgesetzt haben“, sagt eine junge Frau, die gleichzeitig für die Klassenarbeit büffelt, die sie am nächsten Morgen in der Berufsschule schreiben wird, sich aber trotzdem keine Kampfpause gönnen will. Ein junger Mann, der stolz ist, ein Deutscher zu sein, seit fünf Wochen den Führerschein hat, denkt seither immer nur an das eine: sein Motorrad; zwei andere kommen mit einem Fiat 126 (Höchstgeschwindigkeit 110 Stundenkilometer, bergab) - Schicksale, Leidenschaften, Visionen: Tatsächlich geht es hier keinem um die berühmten 6,5 Kilometer und die Zeiteinbuße von einer Minute gegenüber der empfohlenen Richtgeschwindigkeit von 130 Stundenkilometern. Offenbar geht es hier um das Lebensgefühl der Mittelklasse, um das Gefühl der Ohnmacht gegen den Staat, wenn sich der auf einmal in die heile Welt des Konsums und des Genusses der Statussymbole einmischt. Dagegen lohnt es sich offenbar auch, auf der Avus mit zwanzig Stundenkilometern entlang zu protestieren. Aufrechten Geistes und guter Hoffnung immerhin: im zweiten Gang nach Canossa.

Wirklich schnelle Autos sind übrigens bei den Auffahrten kaum vertreten. Und während die mittelständischen Mittelklasse-Reparaturwerkstätten den Verlust ihrer Teststrecken befürchten und ernstlich die Abwanderung von Kunden nach Westdeutschland befürchten, gibt sich etwa die örtliche Porschevertretung gelassen: Sie nämlich verfüge über eigene Anlagen, auf denen Tests mit Geschwindigkeiten bis zu 200 Stundekilometern durchgeführt werden könnten. Im übrigen sei der Porschefahrer ohnehin gelassener, quasi über dem profanen Asphalt schwebend.

Für die elenden Massen bleibt da nur noch das Avus -Tourenwagenrennen, das, wie zum Hohn, ausgerechnet nächstes Wochenende stattfindet. Aber statt sich in die vorgesehene Rolle des passiven Zuschauers zu fügen, will man zu diesem Anlaß die Automobilisierung nur noch stärker vorantreiben: Eine Demo in „bisher nie dagewesenem Ausmaß“ ist geplant. Im Mißerfolgsfall wird allerdings im rot-grünen Berlin in Zukunft nur die Polizei rasen dürfen.

Gabriele Riedle