Peking: Volk ohne Regierung

■ Wieder Großdemonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens / Demonstranten fordern den Kopf von Premierminister Li Peng Am Vorabend Verletzte bei Zusammenstoß mit Uniformierten / Dreck auf der Mao-Gigantographie, dem Symbol der Volksrepublik

Peking (taz) - China im Wartestand. Völlige Funkstille von seiten der Führung. Auch am vierten Tag nach Verhängung des Kriegsrechts über Teile Pekings ist es der chinesischen KP -Spitze am Dienstag nicht gelungen, die Situation in den Griff zu bekommen. Wie schon seit Tagen überließ sie die Initiative den Demonstranten, die erneut in offener Mißachtung des Versammlungsverbots zu Hunderttausenden im strömenden Regen auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen) ausharrten. Hunderttausende zogen in mehreren Protestzügen aus dem Westen und Norden in die Stadtmitte. Weder Deng Xiaoping, die bisherige graue Eminenz noch Premierminister Li Peng oder irgendein anderer Vertreter der engeren Führung sind in den vergangenen vier Tagen gesehen worden. Auch das Schicksal von KP-Chef Zhiao Ziyang ist unbekannt. Der Vorsitzende des Nationalen Volkskongresses, Wan Li, war gestern auf der vorzeitigen Rückkehr von einer USA-Reise.

Bei der „Großdemonstration gegen den Ausnahmezustand“ im Stadtzentrum ein Meer von Transparenten mit drastischen Forderungen: „Nieder mit Li Peng“ oder „Li Peng an die Wand“. Ein Demonstrant trägt einen kleinen Galgen vor sich her, an dem eine kleine Milchflasche hängt. Die Anspielung: Deng Xiaopings Vorname hat im Chinesischen die gleiche Aussprache wie die Zeichen für „kleine Flasche“. „Bevor die Regierung nicht zurücktritt, gehen wir nicht nach Hause.“ Andere Transparente fordern: „Nieder mit der Diktatur“. Eine Frau hat einer Koboldpuppe an einer Angel ein Kleidungsstück mit dem Schriftzug „Li Peng“ übergezogen. Erneut beteiligten sich auch Redakteure der Nachrichtenagentur 'Neues China‘ und Sendeteams des staatlichen Fernsehens an der Demo. Auch die Verurteilung beider Spitzenpolitiker als „Volksfeinde“ wird gefordert.

Auf dem Platz des Himmlischen Friedens beschmierten Unbekannte am Dienstag das überdimensionale Bild des chinesischen Revolutionsführers Mao Zedong. Wie Augenzeugen berichteten, zierten das am Tor des Himmlischen Friedens, dem Eingang zur „Verbotenen Stadt“, angebrachte Porträt rote, blaue und gelbe Farbspritzer. Das Bild wurde anschließend mit einem Tuch verhängt. Das Porträt gilt als eines der Symbole der 1949 gegründeten Volksrepublik. Studenten reagierten sofort und enthüllten ein Transparent mit den Worten: „Dies ist Fortsetzung auf Seite 2

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nicht von Studenten oder dem Volk getan worden.“

Am Dienstag war noch immer kein einziger Soldat durch die Blockadelinien der Bevölkerung ins Stadtinnere eingedrungen. Allerdings kam es am Montag abend zu einem weiteren Zusammenstoß in der Vorstadt Fengtai. Paramilitärische Sonderkommandos der Polizei versuchten den Truppen den Weg freizuknüppeln. Dabei wurden über 50 Studenten verletzt, sechs mit Kopfverletzungen ins Krankenhaus gebracht. Den Versuch, Soldaten mit Hilfe von Krankenwagen durch die Barrikaden zu schleusen, konnten die Studenten gerade noch vereiteln. Mit Empörung reagierte die Bevölkerung auf die Abendnachrichten im Fernsehen, wo der Sprecher erklärte: „Nach zwei Tagen Ausnahmezustand ist die normale Ordnung weitgehend wiederhergestellt.“

Dazu wurde eine alte Aufzeichnung des Tiananmen-Platzes im halbleeren Zustand eingeblendet.

Die Redaktionen fast aller großen Pekinger Medien, darunter die der amtlichen Nachrichtenagentur 'Xinhua‘ und des staatlichen chinesischen Rundfunks und Fernsehens, wurden von der Armee kontrolliert. Selbst im Parteiorgan 'Volkszeitung‘ überwachten nach Angaben der chinesischen Jugendzeitung 'Zhongguo Qingnianbao‘ 70 Sol daten die Arbeit der Redak teure.

Trotz Verbots machte gestern ein Zusammenschluß von Ärzten auf Flugblättern eine Anordnung der Regierung an die Pekinger Kliniken publik: Danach verfügte die Stadtregierung unter anderem, dem Krankenhauspersonal sei untersagt, Medikamente für die Studenten auf den Platz zu bringen. Am Sitzprotest beteiligte Studenten dürften auch keine kostenintensive Behandlung oder teure Medikamente erhalten. Die Stadtwerke Pekings stellten die

Wasserversorgung für den Tiananmen-Platz inzwischen ab, um die Versorgung der über 200.000 Menschen zu erschweren.

Am Dienstag fuhren erstmals seit Verhängung des Ausnahmezustandes wieder einige Buslinien, aber der Verkehr blieb eingeschränkt. Auch ohne erklärten Generalstreik ist die Produktion stark zurückgegangen, da viele Arbeiter gar nicht mehr zum Betrieb gelangen können. Aus dem Umland gelieferte Milch und Frischgemüse erreichen Peking nur noch selten, Rohmaterial und Zulieferteile für die Industrie bleiben aus. Die Zeitungen werden nicht mehr zugestellt, viele auch gar nicht mehr gedruckt, der zur Zeit meistgehörte Radiosender in China, die „Voice of America“, wird seit gestern gestört.

Bei den Teilnehmern des Sit-ins auf dem Tiananmen-Platz ist die Stimmung hervorragend. Ein Sprecher der Peking-Uni sieht den Sieg trotz der gespannten Lage bereits bevorstehen: „Die Regierung steht vor

dem Bankrott. Das Militär kommt nur mit einem Blutvergießen in die Stadt. Ohne Unterstützung der Armee aber trauen sich auch die zahlenmäßig schwachen Sondereinheiten der Polizei nicht, einzugreifen. Die normalen Verkehrspolizisten stehen sowieso auf unserer Seite, das sind ja auch Pekinger.“ Ein anderer Student mag die Euphorie nicht teilen. „Der strategisch schwächste Punkt ist der nur zwei Kilometer von hier entfernte Bahnhof. Am Samstag ist ein Truppenzug eingefahren, ohne daß die Soldaten in die Stadt marschiert sind. Die warten auf Weisungen. Wir können den Bahnhof auch nicht blockieren. Wenn die Armee vom Bahnhof aus stürmt, ist sie nicht aufzuhalten, mit einem Tränengaseinsatz wäre der Platz schnell geräumt.“ Angeblich sollen sich auch Soldaten in dem unterirdischen Tunnelsystem unter dem Platz oder gar der Kanalisation befinden. Das sind aber Gerüchte.“ Ausländische Journalisten werden von der Bevölkerung umringt. „Wir lassen dich

erst gehen, wenn du das ganze Ausmaß der Korruption und der Gemeinheit der Regierung begriffen hast.“

Thomas Reichenbach