Ein langer, melancholischer Abschied

■ Hans Neuenfels inszenierte in Paris York Höllers Oper „Der Meister und Margarita“

Frieder Reininghaus

Ein Anfang vor dem Vorhang und in Schwarz-Weiß. Schon der Stummfilm, mit dem Hans Neuenfels den (französischen) Prolog von York Höllers (deutschsprachiger) Oper nach dem (russischen) Roman Der Meister und Margarita begleitet, exponiert die Chiffren des Verlassenseins, die Signatur der Melancholie: Roland Hermann, der dramatische Bariton, irrt durch die Treppenhäuser und Foyers des Palais Garnier, in dem seit 114 Jahren die Grand Opera de Paris residiert, hält sein ratloses Gesicht in die Kamera, begegnet der auf jugendliche Liebhaberin getrimmten Karan Armstrong, damit die Rahmenhandlung in Gang kommt und diese von Männerstimmen dominierte Oper eine lyrische Sopranpartie bekommt. Mit dem geballten Einsatz der elektronischen Batterie und des sekundenreibenden Orchesters läßt der Komponist keinen Zweifel aufkommen, wo seine Musik ihren Ausgangspunkt hat und worauf sie zielt: auf hier und heute.

Freilich besitzt das Werk mehrere historische Dimensionen. Der zugrundeliegende Roman von Michail Bulgakow ist orts und zeitgebunden, auch wenn er ins Altertum ausschweift und die schwarze Magie der frühen Neuzeit beschwört, nach Jerusalem führt und durch die Lüfte kreuzt - es geht um die dreißiger Jahre. Und der unverkennbare Schauplatz ist Moskau. So kam die Musik nicht umhin, Bezug auf diese Zeit und das Lokalkolorit zu nehmen, wollte sie nicht am Stoff vorbeidriften. Der Tonsatz basiert insgesamt auf einer zwölftönigen „Grundgestalt“, einer flexibel zu handhabenden Generalformel, die eine imaginäre Einheit im Gestaltenreichtum der Musik schafft. Auf der Grundlage der thematischen Struktur organisierte York Höller ruhige, quasi rezitativische Passagen und dichtgedrängte Momente der Aufgeregtheit, fast lautmalerische Situationsschilderungen; er schreckte weder vor Variete- oder Kaffeehausmusik -Anklängen zurück noch vor Adaptionen beim Jazz oder den Rolling Stones; die kunstrussische Revoluzzerhaftigkeit des jungen Strawinsky blitzt auf, und manches erinnert an die besten Momente von Schostakowitsch - wenn es darum geht, das Groteske, Übernatürliche, Wahnwitzige zu skizzieren oder den Surrealismus der Story laut werden zu lassen.

Michail Bulgakow, ein Arzt, machte sich in den Jahren nach der Oktober-Revolution einen Namen als Schriftsteller. Bald aber fühlte sich die Partei- und Staatsführung durch seine Ironie und den Sarkasmus seiner Schilderung der neuen Verhältnisse provoziert, ließ ihn die den Intellektuellen zugedachten Mittel des Leninismus spüren. Der Roman Der Meister und Margarita, unter schwierigen Bedingungen in den dreißiger Jahren entstanden, trägt unverkennbar autobiographische Züge, in der Ära der Schauprozesse wurde er nicht weniger als achtmal umgearbeitet. Bulgakow überlebte die Zeit nicht. Ein russisches Buch voll Wut über die Intellektuellen-Verfolgung, und Trauer über den Gang der sozialistischen Verhältnisse; voll Melancholie über den Kulturverlust und die verordnete Nivellierung der Literatur; voll bösem Spott über die Nomenklatura und die Privilegien; erfüllt von abgründiger Lust an jenen vor-rationalen und anti-aufklärerischen Momenten in der großrussischen Gesellschaft, die weder durch Sowjetmacht noch Elektrifizierung einfach gebannt waren, die eben weitergeisterten; ein Buch, getragen von der Liebe zur Kompliziertheit der russischen Seele, den Ungleichzeitigkeiten in der Woge der gewaltsamen Modernisierung, dem verqueren Denken in den Köpfen (die nun psychiatrisiert oder abgeschnitten wurden).

Ein Roman, der zu Musiktheater umfunktioniert wird, bleibt auf allen Ebenen ein Problem der „Literatur-Oper“. Am offensichtlichsten ist das beim Libretto. Das muß, zwangsläufig, komplizierte Handlungsstränge bündeln, den Stoff insgesamt reduzieren; es muß Berichte und Schilderungen zu Dialog, Monolog, Szenen verdichten. York Höller ist dies verhältnismäßig gut gelungen. Schlüssiger jedenfalls als Heinz Czechowski, dessen Libretto von Rainer Kunad noch in der DDR komponiert und dann, nach der Umsiedlung des Komponisten, 1986 in Karlsruhe uraufgeführt, später auch in Warschau (und dort als Schlüsselstück für die eigene Geschichte) inszeniert wurde.

Höller ging es in erster Linie um die Figur des Meisters, um die „Situation des Künstlers in der Diktatur, der einen Roman über die Frage von Macht und Schuld schreibt, beim Versuch der Veröffentlichung kläglich scheitert, massive Konflikte mit der Staatsgewalt bekommt, ins Irrenhaus gesteckt wird, von seiner Geliebten Margarita (und einer metaphysischen Person namens Voland) aus dieser Isolationshaft befreit wird“ (Höller).

Doch unter der Hand geriet das Werk dem Kölner Komponisten fast zu einem Mephisto-Stück. Denn insgeheim ist Voland die zentrale Figur - der Magier aus der Tiefe der Geschichte, vielleicht der Teufel selbst, der sich gleich in der ersten Szene einmischt; da erschüttert er den platten Materialismus des mäßig talentierten Literaten Besdomny und des allmächtigen Kritikers Berlioz. Dieser, der Vorsitzende des privilegierten Schriftstellerverbandes Massolit, verliert seinen Kopf, wie es Voland vorhersagt. Ironie des Schicksals: durch die Straßenbahn, das Vehikel des Fortschritts. Wie in Bulgakows Roman, so darf er auch in der Neuenfels-Inszenierung noch eine kopflose Runde drehen - er verdirbt den Kulturfunktionären im Massolit -Feinschmeckerkeller den Appetit. Voland beschwört auch Bilder der Geschichte, bevor er das ganze Arsenal seiner Zauberkünste im Variete vorführt: die Verhandlung des Prokonsuls Pilatus gegen den wegen Landfriedensbruchs, Aberglaubens und Majestätsbeleidigung angeklagten Jeschua von Nazareth.

Dieses Bild gelang Neuenfels und seinem Ausstattungsteam (Reinhard von der Thannen, Dirk von Bodisco, Thomas Woerdehoff) am überzeugendsten: der dekadente Hegemon Pilatus, ein zynischer und sensibler Glatzkopf, wird von einer sehenswerten Dogge und viel geschmäcklerisch herausgeputzten servilen Jünglingen umringt. Den ganzen unsäglichen Schmutz, von dem Bulgakow schreibt, die Verkommenheit von Moskauer Wohnungen, die Niedrigkeit der Geschichte und die kleinkarierte Funktionärsmentalität hat die Inszenierung weggeputzt; den Tiefenwirkungen wird sie überhaupt nicht gerecht, weil sie die phantastischen Bilder Bulgakows, die Wahnideen oder Drogenphantasien nicht auf die Bühne zu bringen versteht. Wieviel dämonischer ist Bulgakows Schilderung des schwarzen Katers als das Tierchen, das sich da im Auftrag von Neuenfels räkelt und ziert! Das russische Kolorit der dreißiger Jahre ist durch die Ausstattung des Literaten-Restaurants, des Varietes und einen Zeitungskiosk angedeutet, in dem die 'Prawda‘ und nichts als die 'Prawda‘ verkauft wird.

Auch das Mittel der Filmeinblendungen läuft sich tot - alle Zwischenaktmusiken werden damit bedient, assoziativ überlagert (es ist, als hätte der Regisseur kein rechtes Zutrauen zur Ausdrucksfähigkeit der Musik, zur Farbigkeit der Höllerschen Partitur entwickelt). Den wahrhaft als grandiose Wind- und Wetter-Musik komponierten Flug über Moskau illustriert Neuenfels mit Bildern vom Palais Garnier - Draufsicht mit schwenkender Kamera und, im Gegenschnitt, Frau Armstrong mit wehendem Gewand und Nicholas Folwell mit heftig schlagenden Armen. Auch sonst ist die Künstlerproblematik recht weit von der konkreten Moskauer Situation abgezogen, in pariserisches Ambiente gehüllt. Nicht einmal die Männer von der Stadtreinigung mit den grünen Plastikbesen dürfen fehlen. Entweder hat Neuenfels den Bulgakow-Roman nicht gelesen oder rasch und achtlos wieder beiseite gelegt - um seinen eigenen Eingebungen zu folgen.

Die aber bleiben vergleichsweise mager. So wird die Geschichte, ganz im Gegensatz zur widersprüchlichen (und doch im Inneren zusammengehaltenen) Musik, geglättet: eine geschleckte Inszenierung, korrespondierend der Plat de jour der Nouvelle cuisine an der Place des Voges. Besonders enttäuschend fällt der (faule und doch umwerfende) Zauber des Voland-Trios im Variete aus - der Karten-Trick und der Geldscheinregen lassen sich leicht zeigen; wie aber dem Conferencier der Kopf abgerissen und wieder aufgesetzt, wie der Realzauber der in Moskau vorgegaukelten Mode von Paris, wie die „Enthüllung“ am Beispiel des Variete-Direktors vollzogen wird - ach, das hätte alles ein lustvolleres, pralleres Theatermachen verlangt.

Da bleibt die Inszenierung weit hinter der Musik zurück, die an entscheidenden Punkten einlöst, was der Gounod -Liebhaber Bulgakow von einer Komposition „auf der Höhe der Zeit“ verlangte. Um sich der Verhaftung durch die Miliz zu entziehen, löst der Kater blitzschnell die Variete -Vorführung auf und läßt den Kapellmeister einen Marsch intonieren. „Der schon halbverrückte Kapellmeister“, heißt es bei Bulgakow, „fuchtelte ohne Sinn und Verstand mit seinem Stab, und die Kapelle legte los - sie spielte nicht, dröhnte nicht, schmetterte nicht, sondern sie klamaukte nach dem gemeinen Ausdruck des Katers einen unwahrscheinlichen, an Frechheit nicht zu überbietenden Marsch“.

Lothar Zagrosek, Directeur musical, schlägt allerdings mit hohem Sinn und nüchternem Verstand den Takt zu Höllers Musik. Der Dirigent dürfte einen stattlichen Anteil an der intensiven Wirkung der Musik haben, die freilich, wenn der erste Eindruck nicht trügt, im zweiten Akt an Spannungsabfall leidet. Mag sein, daß die kompositorische Technik, die das Treiben von Voland und Konsorten zu hervorragend ausstattete, den Beziehungsproblemen von Margarita und ihrem Meister nicht mehr so glücklich zur Hand geht. Insgesamt aber ist Höller mit der Musik zu Meister und Margarita eine stolze Architektur geglückt: mit seiner Schreibweise vermag er große Distanzen zu überbrücken, Bögen zu spannen und Flächen auszufüllen; sie erlaubt zugleich die Zuspitzung um des dramatischen Effekts willen. Und das ist bei den neueren Opern eine seltene Ausnahme.

Die Neuenfels-Inszenierung soll, so die Theater-Götter von Paris wollen und der fortdauernde Streit sich nach den Absichten der Entscheidungsträger löst, die letzte Opernpremiere im Palais Garnier gewesen sein. Die Inszenierung spielt beiläufig darauf an. Der Umzug in die Opernfestung an der Place de la Bastille steht an, sobald dort die Marmor- und Granitplatten angedübelt, die Birnen reingeschraubt und die Böden gefegt sind. Das ruhm- und traditionsreiche Haus ist nach 114 Jahren am Opernfinale angekommen. Die große Gattung der Musik nahm mit Höllers Oper einen langen melancholischen Abschied - wie der Meister von seiner Margarita, mit der er nicht zurechtkommt, in einer Inszenierung, die allerdings für die intellektuelle Geste der Vergeblichkeit das feinste Gespür entwickelt.