Die geopolitische Falle

■ Der Autor schrieb in der offiziellen ungarischen Zeitschrift 'Budapester Rundschau‘ seinen Artikel über die Tücken der geopolitischen Lage und ihre Ideologisierung in Ungarn. Ähnlichkeiten mit deutschen Debatten sind nicht zufällig

Endre Gömöri

Zwischen zwei Heiden - für ein Vaterland“ fließe ihr Blut -, das sangen im 18. Jahrhundert die Soldaten eines (aber nicht des einzigen) gescheiterten Freiheitskampfes. Die Zeile blieb tief im nationalen Bewußtsein haften. Die „zwei Heiden“ waren damals, der strategischen Konstellation der Zeit entsprechend, das Habsburgerreich und das an Ungarns Grenzen noch immer präsente türkische Imperium. Zwischen ihnen befand sich Ungarn, um dessen Unabhängigkeit es ging.

Weder der Soldat noch die adeligen Anführer jenes Freiheitskampfes wußten damals etwas von einem heute Geopolitik genannten Begriff. Tatsache ist jedoch, daß jener Unabhängigkeitskrieg vorwiegend aus „geopolitischen Gründen“ scheiterte; Frankreich, das die wichtigste Stütze der ungarischen Aufständischen gegen Habsburg hätte sein können, entzog ihnen seine Förderung aufgrund weiterreichender strategischen Bedenken.

Von ähnlicher Relevanz war Geopolitik bei der Niederlage des ungarischen Freiheitskampfes 1848-1849. Die Gründermacht der Heiligen Allianz, das Rußland des Zaren kam dem Habsburgerreich in dessen militärischer Bedrängnis zu Hilfe. Sie beide nahmen die ungarische Freiheitsbewegung in die geopolitische Zange.

Nach dem 1867 erfolgten Ausgleich des realpolitischen Flügels der ungarischen Unabhängigkeitsbewegung mit Österreich entstand in der Region Mitteleuropa eine historisch einmalige Situation. Österreich-Ungarn füllte trotz aller seiner Fehler - ein regionales Vakuum aus. Insoweit war Ungarn (als die eine Komponente der dualistischen Monarchie) während eines begrenzten Zeitraumes nicht abhängig von der Geopolitik, sondern selbst Faktor der geopolitischen Stabilität Europas.

Mit dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie und der Herausbildung des Systems von Versaille bildete sich erneut ein Vakuum im Streifen zwischen Adria und Baltischem Meer, das sich schließlich entscheidend auf den Ausbruch des zweiten Weltkriegs auswirkte.

Nach 1945 wurde Europa gespalten, und die Zeit des geopolitischen luftleeren Raumes schien passe. Das Versailler System wurde - mit einigen Grenzkorrekturen hinübergerettet, doch dies erwies sich als pure Formsache, lag doch der ursprüngliche geopolitische Sinn der Pariser Vorortverträge darin, zwischen Deutschland und der Sowjetunion ein Cordon sanitaire - praktisch unter französisch-britischer Kontrolle - einzurichten. Dieser Sinn war verloren gegangen: Die Länder, die früher den Cordon bildeten, wurden zu Mitgliedern des Warschauer Vertrages, und zwar unabhängig davon, ob sie nach dem ersten Weltkrieg Geschädigte (wie Ungarn) oder Nutznießer (wie die Tschechoslowakei und Rumänien) der unter ethnischen Aspekten keinesfalls korrekten Versailler Vereinbarungen waren.

Dieses System schien in einer Zeit der absoluten Konfrontation zwischen dem Westen und der Sowjetunion, die jedoch innerhalb der sowjetischen Machtsphäre bis zum Tode Stalins von einer brutal erzwungenen Hegemonie Moskaus gekennzeichnet war, unbeweglich. Nach dem Ableben des Diktators änderte sich die Lage insofern, da die Länder Osteuropas die monolithische Struktur und die ideologische Orthodoxie des Warschauer Bündnisses zunehmend in Frage stellten (siehe 1953: Ost-Berlin, 1956: Ungarn, 1968: Tschechoslowakei, 1980: Polen). Obwohl sich diese Bewegungen in Ausmaß, Charakter sowie auch ideologischem Inhalt unterschieden, war doch ihr gemeinsames Ziel, den monolithischen Machtblock zu brechen. Alle diese Experimente sind gescheitert. In den ersten drei Fällen organisierte die sowjetische Militärmacht neostalinistischer Prägung eine Intervention, im vierten Fall wurde der Ausnahmezustand verhängt, um - mehr oder minder zugegebenermaßen - einer sowjetischen militärischen Einmischung vorzubeugen.

Alles in allem hatte es den Anschein, als winde sich die gesamte Region - und somit Ungarn - in einer Falle der Geopolitik, wodurch das innenpolitische Leben und das außenpolitische Denken dieser Länder schwer belastet wurde. Die konservativen Kräfte bzw. das konservative Zentrum der Macht versteckten sich hinter den geopolitischen Realitäten und benutzten sie immer dann als Vorwand, wenn sie sich gegen radikale Reformen im Land und das Streben nach größeren außenpolitischen Freiräumen stellten.

Erstmals nach langen Jahrzehnten kann jetzt die Frage auf neue Art und Weise gestellt werden: Sind wir in Mitteleuropa tatsächlich Gefangene der Geopolitik?

Derzeit wird diese Frage von den einzelnen Ländern der Region unterschiedlich beantwortet. Die Antwort Polens lautet anders als die der DDR, die von Ungarn anders als die der DDR und der Tschechoslowakei. Was Rumänien sagt, ist undurchsichtig, sicher ist nur, daß sich seine Antwort von allen anderen unterscheiden wird.

Die verschiedenen Antworten gehen jedoch in irgendeiner Weise auf einen gemeinsamen schicksalsträchtigen Umstand zurück: Die Sowjetunion als geopolitisch bestimmende Macht der Region schickt sich - erstmals in ihrer Geschichte - an, eine entscheidende gesellschaftlich-politische Wende zu vollziehen.

Noch besteht keine Garantie für das Gelingen des gigantischen Gorbatschowschen Experiments. Gewiß ist aber, daß die differenzierte Entwicklung der Warschauer Vertragsstaaten ohne Perestroika nicht ihr heutiges Ausmaß hätte annehmen können. Man hätte die Frage, ob man sich „östlich der Jalta-Linie“ aus der Falle der Geopolitik befreien kann, auf seriöse Weise gar nicht erst stellen können. Und gerade das mahnt uns, daß wir bestimmte grundlegende geopolitische Faktoren nach wie vor einkalkulieren müssen.

Erstens: Bei der Gestaltung seiner Politik muß jedes Land der Region die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion mit in Betracht ziehen. Diese dürfen nicht verletzt werden. Ein herausragendes Beispiel hierfür liefert das finnische Modell. Finnland, das seiner gesellschaftlichen Einrichtung nach kapitalistisch, gleichzeitig aber auch neutral ist, fällt seit 1945 sämtliche innenpolitische Entscheidungen auf souveräne Weise. Seiner außenpolitischen Souveränität tut es keinen Abbruch, daß es die sowjetischen Sicherheitsbelange stets ins Kalkül zieht.

Zweitens: Das finnische Modell läßt sich nicht automatisch auf die Warschauer Vertragsstaaten anwenden. Es ist bemerkenswert, daß dies auch die Nato-Länder, allen voran ihre Hegemonialmacht, die USA, so sehen: Hauptziel der amerikanischen Politik wird in Europa noch auf lange Sicht die Aufrechterhaltung des Nato-Bündnisses sein. Ein Zerfall des Warschauer Bündnisses bzw. die Beschleunigung eines solchen Prozesses steht nicht im Interesse von Washington. Sämtliche amerikanischen Analysen der jüngsten Zeit bezeugen diesen Umstand. In der Wochenzeitung 'Die Zeit‘ schreibt Theo Sommer den Standpunkt Kissingers interpretierend, „die Sowjets werden heute wohl die Herausbildung zunehmend pluralistischer Parteiensysteme und stärker marktorientierte Wirtschaftssysteme in ihrem Vorfeld akzeptieren, nicht jedoch die Gefährdung ihres Sicherheitssystems“. Kissinger -Rivale Brzezinsky sei ähnlichen Sinnes: „Das Ziel müsse es sein, ein immer dichteres Gewebe konkreter Beziehungen zu schaffen; den Warschauer Pakt aus einem ideologischen in ein geopolitisches Bündnis zu verwandeln.“

Das sind also nicht auszuklammernde geopolitische Tatsachen. Die andere Seite der Medaille aber ist, daß man sich nicht mehr hinter den geopolitischen Realitäten verstecken und diese zwecks Knebelung der sozioökonomischen und politischen Reformen mißbrauchen kann. Die ungarische Außenpolitik hat dies eindeutig erkannt. Ein weitgehender Konsens besteht diesbezüglich zwischen der regierenden kommunistischen Partei und der sich formierenden Opposition hierzulande. Sogar die radikalsten oppositionellen Gruppierungen halten einen Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt für nicht möglich und nicht notwendig. Einigkeit herrscht auch in der Frage, daß das Bündnis kein Recht besitzen darf, das ihm die Einmischung in die soziale und ökonomische Entwicklung dieser Länder ermöglicht. Das Anliegen der offiziellen ungarischen Außenpolitik, auch ihre Sicherheitspolitik zu reformieren, wird von der Opposition bejaht. Der neue Außenamtstaatssekretär Laslo Kovacs faßte dieses Anliegen in einem Vortrag in Genf wie folgt zusammen: „Wir planen eine verteidigungsorientierte Struktur unserer Streitkräfte, die es uns ermöglichen würde, Truppen, Rüstungen und den Militäretat bedeutend zu reduzieren.“

Elemente des Konsenses lassen sich zwischen Regierung und Opposition auch mittelfristig ausmachen, aber da weist das Einverständnis schon bedeutende Lücken auf. Das Zentrum der regierenden USAP besitzt keine mittelfristige Konzeption. Der Reformflügel der Partei meint, Ungarn könnte mit der Zeit „eine Lösung nach Art Frankreichs oder Griechenlands“ wählen. Das würde bedeuten, daß das Land Mitglied der politischen Organisation des Warschauer Bündnisses bleibt, ohne an der militärischen Integration teilzunehmen. Die Radikalsten unter den Oppositionellen können es sich mittelfristig auch vorstellen, daß der Politische Beratende Ausschuß des Warschauer Vertrages aufgelöst wird und die vereinigte Armee nach dem Prinzip der Rotation befehligt wird.

Es gibt also auch viele vage, ungeklärte Vorstellungen. Das ist völlig verständlich, denn die Dinge sind in Bewegung. Dabei läßt sich eine gewisse Konvergenz zwischen dem ungarischen Standpunkt, der langsam Form annimmt, und dem Herangehen a la Kissinger-Brzezinsky nicht leugnen. Solche Berührungspunkte sind folgende Thesen: 1. Die geopolitischen Realitäten gilt es auch weiterhin zur Kenntnis zu nehmen; der Warschauer Vertrag kann nicht einseitig demontiert werden. 2. Die gegebenen geopolitischen Realitäten müssen in die globalstrategische Sphäre, in die internationale Gleichgewichtspolitik eingeordnet werden. Die freie innenpolitische Entwicklung, so die radikale gesellschaftliche und politische Wende (zum Beispiel in Richtung Mehrparteiensystem und parlamentarische Demokratie) darf nicht mehr geopolitischen Fakten untergeordnet werden.

Hauptsache, daß in der Region eine Lösung gefunden wird, die der absoluten Herrschaft der Geopolitik ein Ende setzt, deren relative Hegemonie jedoch anerkennt. Die Geopolitik muß aus der Festung der Diktatur heraus und sich in die Arena der offenen Interessenkonfrontation begeben. Sie ist Realität - jedoch keine unüberwindliche Falle.