Und ganz China wußte: Das Kriegsrecht ist unwirksam

■ Nach anfänglichem Schweigen veränderte Berichterstattung in der chinesischen Presse / Fernsehbilder über die großen Demonstrationen / Presseberichte zeigen: Die Armee sollte in Peking nicht das Chaos beseitigen / Busse fahren wieder, Läden sind geöffnet / Studentenparole: „Wir schlafen nicht, bis Li Peng nicht hängt“

Peking (taz) - Während kurz nach der Verhängung des Kriegsrechts die Nachrichteninformation fast eingestellt war, hat sich die Lage in den Fernseh- und Zeitungsredaktionen in den letzten Tagen geradezu dramatisch verändert. Zwar lagen Meldungen über die Präsenz von Soldaten in den Medienhäusern vor. Und trotzdem: Am Dienstag abend, 19 Uhr, konnten die Einwohner Pekings und die Leute in ganz China plötzlich Bilder von der großen Demonstration verfolgen, die an diesem Nachmittag stattfand. Das bedeutet, ganz China weiß jetzt, daß das verhängte Kriegsrecht nicht wirkt und nicht angewandt wird.

Plötzlich wurden auch wieder die patriotischen Beweggründe der Studenten betont, während in den Tagen vorher häufig von Aufruhr die Rede war. In einem langen Interview mit einem Offizier der Volksbefreiungsarmee machte der Soldat unzweideutig klar, er würde nicht mit Gewalt gegen das Volk vorgehen.

In den chinesischen Tageszeitungen werden die Solidaritätsbekundungen von 15 Provinzen für Li Peng und seine Kriegsrechtsmaßnahmen kleiner gedruckt als die Berichte und Äußerungen von Wang Li. Der Vorsitzende des Nationalen Volkskongresses, der seinen USA-Aufenthalt abgebrochen hatte und gestern in Peking erwartet wurde, hatte die Studenten in Amerika für ihre Besonnenheit gelobt. In der englischsprachigen 'China Daily‘ stehen die Solidaritätsaufrufe für Li Peng erst auf Seite vier und da noch am linken unteren Rand. Hauptschlagzeile ist „Großer Marsch in Peking - Fortsetzung des Protests“ (englisch: „Victorate in Beijing - as protests continues“). Daneben gibt es ein Bild, das zeigt, wie Demonstranten sich vor dem Gewitter während der Demonstration vorgestern mit Plastikplanen zu schützen versuchen. Die Berichterstattung in dieser Ausgabe der 'China Daily‘ ist durchaus studentenfreundlich, und es wird betont, daß das Leben in Peking normal und geordnet weitergehe.

Im Gegensatz zu Berichten von Samstag oder Sonntag heißt es, daß die Nahrungsmittelversorgung funktioniere, daß sich die Leute nur über das zusammengebrochene Nahverkehrssystem beklagten. Aber das ist vermutlich auf die Stadtregierung zurückzuführen, die angeordnet hat, daß keine Busse mehr fahren sollten. Für den aufmerksamen Leser heißt dies, daß die Begründung, die Armee in die Stadt zu rufen, weil hier Unordnung und Chaos herrsche, nicht mehr zutrifft, ja, nie zugetroffen hat.

Zitate aus der 'China Daily‘: „Außer am Tiananmen-Platz ist die Stadt normal und das Leben der Bürger ungestört. Die Geschäfte sind geöffnet, der Verkehr fließt.“ - „Seit vier aufeinanderfolgenden Abenden versammeln sich die Bewohner der anliegenden Wohngebiete spontan an allen wichtigen Straßen, die in die Stadt führen, um Barrikaden zu bauen und Straßensperren zu errichten und zu verhindern, daß die Militärtruppen in die Stadt gelangen. An jeder Barrikade helfen morgens Studentengruppen beim Wegräumen der Barrikaden oder der Sperren, um den regulären Verkehr zu ermöglichen.“

Über die Demonstration von gestern wird berichtet: „Die überwältigende Mehrheit der Sprechchöre war gegen den Vorsitzenden des Staatsrats, das heißt gegen Li Peng, gerichtet.“ Es handelt sich dabei vielfach um sehr witzige, ironische, teils auch ziemlich radikale Aufrufe. Im Chinesischen sind diese Parolen in Reimform gehalten und lassen sich auch vom Rhythmus her sehr gut skandieren: „Solange Deng Xiaoping nicht in den Ruhestand geht, demonstrieren wir täglich!“ Oder: „Solange Li Peng nicht hängt, schlafen wir nicht!“

Li Peng ist der Adoptivsohn von Zhou Enlai und seiner Frau Deng Yingchao. So heißt es in den Parolen der Studenten: „Premier Zhao, wo bist Du? Dein Sohn, der ist nicht so wie Du.“ „Mama Deng, komm heraus und bring Deinen Sohn nach Haus!“

An diesen Parolen wird die Absicht Zehntausender von Studenten deutlich, die auf dem Tiananmen ihren Sitzstreik durchführen: Sie wollen ihn fortsetzen, bis es zu einer Veränderung an der Spitze der Regierung kommt. Trotzdem haben sich viele Pekinger Studenten in ihre Hochschule zurückgezogen, um sich auszuruhen. Sie sind völlig erschöpft, teilweise schwach und krank. Dafür treffen mehr und mehr Studenten aus anderen Städten und Provinzen ein und übernehmen den Platz ihrer Pekinger Kommilitonen.

Reinhold Wandel