Videomonster

■ Die Lust der Kinder und der Horror der Kulturkritik

Der unmäßige Videokonsum macht gleichgültig gegen alles, was keine Beziehung zu Video und Fernsehen hat. Ist erst durch einseitige Fixierung auf das Visuelle der Vielseher körperlich völlig erschlafft und zugleich nervös überreizt, dann adieu Familiensinn.

Wer könnte das wohl geschrieben haben? Nun, ich habe an dem Zitat etwas manipuliert. Das Original stammt aus einer Zeit, als es weder Fernsehen noch Video gab, als vielmehr das Lesen zur großen kulturellen Mode aufstieg und als sich die Pädagogen - und nicht nur sie - Gedanken machten über die Seuche ihrer Zeit, als Lesen.

Tatsächlich also heißt das Zitat:

Das unmäßige und zwecklose Lesen macht zuförderst fremd und gleichgültig gegen alles, was keine Beziehung auf Literatur und Bücherideen hat (...) Hat man gar durch einseitige Beschäftigung der Seelenkräfte bei unnatürlicher körperlicher Ruhe, erst vollends seine Säfte verdickt, seine Nerven geschwächt und zur Ungebühr reizbar gemacht: dann fahre wohl, häusliche Glückseligkeit!1

Die Angst vor der Lesesucht ist erst 200 Jahre alt. Joachim Heinrich Campe, pädagogischer Bestsellerautor seiner Zeit, sozusagen der Neil Postman der romantischen deutschen Pädagogik, veröffentlichte jene Sätze 1785 in seinen Allgemeinen Revisionen des gesamten Schul- und Bildungswesens. Campe war kein Außenseiter seiner Zeit. Auf die Lesepropaganda der Aufklärung folgte im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts die Warnung vor der „Lesewut“ der Frauenzimmer und die Sorge vor der „Leseseuche“ bei der Jugend.

Schmökern unter der Bettdecke

Wer noch in der Vor-Fernsehzeit oder in einem fernsehskeptischen Haushalt aufgewachsen ist, erinnert sich bestimmt an solche Ermahnungen „Geh doch mal an die frische Luft - dauernd dieses Schmökern“ - was dank der Taschenlampentechnologie auch abends noch unter der Bettdecke möglich war. Und heute? Die Avantgardisten unter den Kids sitzen am Computer und werden von ihren Eltern höflich und argumentativ gebeten, ihre „Autistentätigkeit“ am PC abzubrechen und sich zur Familie zu gesellen, was in der Regel heißt: zum gemeinschaftlichen Fernsehen. Ja, war das noch schön: die Familie vereint vor dem Fernseher, alle zusammen, auch das schon Nostalgie. Inzwischen hat jeder seine eigene Glotze: jedem Kind sein Programm, notfalls per Videorecorder oder am Computerbildschirm selber gemacht.

Irgendein Medium

ist immer schuld

Eine Kontinuität bleibt in all den Wechselfällen der Medienkonjunkturen: Wenn es in der Familie, in der Schule oder generell in der Kultur nicht mehr klappt: irgendein Medium ist immer Schuld. Das jeweils neue Medium bekommt eine diabolische Aura, wird als Verführer wahrgenommen, das heißt als Subjekt, das sich die Menschen unterwirft. Also müssen die Opfer vor dem Übergriff geschützt werden, so die Logik pädagogischer Fürsorge.

Und tatsächlich überlegten die romantischen Pädagogen vor 200 Jahren, „ob man einem großen Teil der Menschen noch anraten soll, lesen zu lernen“, so Karl Gottfried Bauer in seiner damals preisgekrönten Schrift Über die Mittel, dem Geschlechtstrieb eine unschädliche Richtung zu geben.2 Die Unterweisung im Lesen sollte auf diejenigen beschränkt bleiben, die damit umgehen können, also Lehrer, Priester und alle anderen, die unverdächtig sind, diese Fähigkeit zur Lektüre von Schundliteratur zu mißbrauchen.

Heute zerbrechen sich Kulturkritiker wieder oder immer noch die Köpfe über den Kulturzerfall, hervorgerufen von Fernsehen, Video und neuerdings von Computern. Und Autoren wie Neil Postman, Mary Winn und Jerry Marder fordern: „Schafft das Fernsehen ab.„3 Merkwürdig nur, daß die Kritik an den neuen Video- und Fernsehwelten fast ausschließlich im Namen der bedrohten Lesekultur gefochten wird. Merkwürdig auch, daß der fundamentalistische Krieg gegen die Medien in den Medien ausgetragen wird. Wenn Neil Postman in Europa einfliegt, erwarten ihn schon am Flughafen die Fernsehteams, die man dorthin gebeten hat. Und dann wird das Fernsehpublikum darüber aufgeklärt, daß ihm zum Beispiel Geschichtsbewußtsein fehle, es lebe im dumpfen „Hier und Jetzt“ seines blöden Bilderkonsums. - Ja, das sind Sätze, die gehen runter, da nickt die Fernsehnation dem Kulturkritiker in der Glotze zu. Postman: „Das Absterben der Kultur wird zur realen Bedrohung.„4 Das schreibt der artistische Ideologiesurfer dem besorgten Publikum ins Poesiealbum: „Wir amüsieren uns zu Tode.„5 Das Fernsehen ist schuld.

Aber Vorsicht, das Geschichtsbewußtsein, das in der „Literacy“, in der Buchkultur, so viel besser aufgehoben sei, dessen Verschwinden durch die visuellen Medien heute beklagt wird, jenes Geschichtsbewußtsein sah schon Platon bedroht. Wovon? Von den Buchstaben, von der Erfindung der Schrift. Im Phaidros läßt er Sokrates überlegen, ob nicht die Buchstaben die Menschen in ihrer Seele vergeßlich machen.

Das neueste Medium wird

zur Hölle stilisiert

Die Schrift, so der platonische Mythos, wurde von Theuth, dem Erfinder der Buchstaben, dem König von Theben als ein Pharmakon, als Medizin, angeboten, die Kraft des Erinnerns zu stärken. Aber der König lehnte die Droge ab, denn - so wörtlich bei Platon: „Diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden Vergessenheit einflößen (...), weil sie im Vertrauen auf die Schrift (...) nicht innerlich sich selber erinnern werden.“ Statt weise, würden die buchstabengläubigen Menschen dünkelhaft. Eine Behauptung, für die uns sofort lebendige Beispiele einfallen. Man ist geneigt, Platons Verdikt auf Kulturkritiker wie Postman zu übertragen, die das je allerneueste Medium zur Hölle stilisieren - das alte indes als jenes Paradies zeichnen, aus dem wir just vertrieben werden.

Auf der Anklagebank der Kulturkritik sitzt inzwischen aber nicht mehr nur das Fernsehen. Die Steigerung von Fernsehen heißt Video. Video ist angeklagt der Propagierung von Gewalt. Mit den sogenannten Horrorvideos - so scheint es allerdings - liefern Kinder und Jugendliche, die diese Filme verschlingen, den Kritikern tatsächlich den Beweis. Denn nun wird der Horror vor dem Medium von dessen Inhalten bestätigt. Da sieht man's ja: Menschen, die andere mit Kreissägen umbringen, sich der Eingeweide ihrer Opfer kannibalisch bemächtigen. Was auch immer gezeigt wird, Gewalt und Verrohung sind die Botschaft.

Horrorvideos, das ist die landläufige Vorstellung, verbreiten diese Gewaltmuster, machen sie alltäglich, bauen alle Scham und Gewissensschranken ab. Und dann, irgendwann, wird sie aufgehen, diese böse Saat der Gewalt. Denn die Bilder prägen das Bewußtsein und stimulieren schließlich zu entsprechenden gewalttätigen Handlungen.

Das Muster scheint plausibel: erst das Horrorvideo reinziehen und dann auf zur Randale. Das nennt man Modellernern. Die Lehre vom Modellcharakter der Horrorvideos ist die herrschende Meinung in der Pädagogik, sie ist das Denkmuster, auf dem der sogenannte Jugendschutz basiert, passend zu seinen Mitteln: Indizieren, Fernhalten, schließlich Tabuisieren.

Das Video soll vorbildlich sein, das erwarten die Pädagogen. Und das ist nicht nur ihr moralischer Anspruch, sie glauben, das Medium sei immer Vor-Bild - ob es will oder nicht - so wie sie das Geschriebene vorzugsweise als eine Vor-Schrift lesen.

Hier wird immer noch der pädagogische Mythos von der Tabula rasa, vom Kind als unbeschriebenes, erst durch Erziehung zu prägendes Blatt.

Ihr Denken in starren Mustern von Subjekt und Objekt läßt Pädagogen und Kulturkritiker immer gleich nach dem Einfluß fragen. Und auf „Beeinflussung“ wollen sie das Monopol halten. Argwöhnisch fahnden sie nach jedem „anderen Gott“, nach dem fremden Vor-Bild, das ja, wie sie meinen, irgendwann nachgeahmt werden wird. Ein fragwürdiges Modell, das schon im konkreten Fall der Nachprüfung nicht standhält, wie jüngst die Studie einer Medienpädagogin schlüssig nachwies. Die Hamburger Hochschullehrerin Renate Luca-Krüger war unzufrieden mit all den Studien über die Wirkung der Horrorvideos auf Kinder und Jugendliche. Die Studien waren ihr nicht genau genug. In der Regel werden diverse Korrelationen erhoben, die zu Schlüssen führen wie: Wer viel fernsieht, sieht häufig Gewaltfilme und hat ein düstereres Bild von der Welt als andere Menschen. Aber solche Korrelationen beweisen nichts oder wenig über Ursache und Wirkung.

Im Thrill wollen

sie sich selber spüren

Die Wissenschaftlerin nun fand keine Hinweise, daß Gewaltvideos die Aggressivität förderten oder gar zum Nachahmen krimineller Handlungen führten. Sie fand bei den Jugendlichen vielmehr Depression, auch Erschrecken oder Abstumpfung und Langeweile. Was sie suchen ist Erregung, sie wollen im Thrill sich selber spüren. Erstaunlich: nicht einmal das Anschwellen von Aggressionsphantasien konnte die Wissenschaftlerin nachweisen, ja, sie vermißte bei den Konsumenten der Horrorvideos sogar Gedanken an deren eigene Stärke. Statt dessen beobachtete sie, daß die Jugendlichen ihre zerstörerischen Phantasien zuweilen gegen sich selber richten, daß sie verstummen.

Nicht die in den Videos vorexerzierte, nach außen gerichtete Gewalt also wird gemäß der Theorie vom „Modellernen“ nachgeahmt, die Gewalt wird - scheinbar paradox - nach innen geleitet. Aus ihrem Gefühl ungelebten Lebens suchen die Zuschauer im dargestellten Horror Entlastung, suchen Erregungsgewinn und das Gefühl von Lebendigkeit. Ihr Wunsch, sich zu spüren, ist vergleichbar dem Symptom körperlicher Selbstverstümmelung bei Gefangenen, die lange Zeit isoliert gehalten worden sind.

Seit einiger Zeit machen in Großstädten sogenannte S -Bahnsurfer von sich reden. Jugendliche, die bei voller Fahrt Zugtüren öffnen, sich heraushängen, herausklettern, um ihre Initialen oder andere Graffiti auf den Zug zu sprühen. Kürzlich rutschte dabei eine Schülerin ab und wurde lebensgefährlich verletzt. Kein Horrorvideo gibt das Vorbild für diese Abenteuer, die eher psychoanalytisch zu interpretieren wären, etwa als Mobilisierung der Angst vor dem Sturz, der Sturz der zur Metapher geworden ist, der von den Jugendlichen oft schon und in vielen Varianten erlebt wurde, aber nicht wirklich erfahren werden konnte. Die psychoanalytische Unterscheidung von „erlebt“ und „erfahren“ ist nicht spitzfindig. Die Unterscheidung erklärt, warum uns bestimmte Situationen wider alle Vernunft anziehen. Wir wollen, was wir nur erlebt haben, was uns widerfahren ist, endlich erfahren.

Und so wird vielleicht auch klar, weshalb der Horror einen Teil der Videoszene beherrscht. Die Monster und Zombies ästhetisieren Erlebnismuster aus dem Alltag, zumal dem von Kindern und Jugendlichen. Ästhetisieren ist doppeldeutig, gewiß, zunächst bedeutet es doch wohl, das nur diffus Erlebte, das, was in Zwischenräumen unsichtbar bleibt, bekommt eine Gestalt, wird als Handlung faßbar.

Sind nicht in der Tat die Zombies, die Untoten, Video -Metaphern auf jene Charaktermasken, die unseren Alltag säumen? Sind die „Untoten“ nicht jene leidenschaftslosen Funktionäre des Funktionierens, die sich zudem unangreifbar machen? Vampire, auch die eigentlich tot, können sich nur an ihrem armseligen Halbleben halten, wenn sie Lebendige aussaugen. - Und Monster, erscheinen die nicht deshalb auf dem Video, weil die tatsächlichen Monster mit Schlips und Kragen unter falschen Namen firmieren?

Video, das heißt: „ich sehe“. Videos malen den Teufel an die Wand, aber sie haben ihn nicht erfunden. Das Problem der Videos ist, daß sie in der Tat insofern zumeist schlecht sind, als daß der Horror durch sie eben nicht erfahrbar wird. Der Horror per Video stumpft in den ewigen Schleifen der Wiederholung die Wahrnehmung ab.

Video: „Ich sehe“

Video ist jedenfalls kein Medium der bewußten Information. Video, das ist eine Bühne des Unbewußten, der heimlichen Wünsche, die sich auf Umwegen mitteilen, die erst entschlüsselt werden müssen. Video, das heißt: „ich sehe“. Was sehen die Kinder und Jugendlichen auf dem Bildschirm? Sicher ist nur, Vor-Bilder sehen und suchen sie hier nicht. Ob sie hier Wahrheit finden, darf man bezweifeln, aber heutige Versuche, Wahrheit zu finden, dürfen nicht mehr hinter das zurückfallen, was auf den Videos sichtbar geworden ist.

Merkwürdig bleibt der beschränkte Blick jener Kulturkritiker und Pädagogen, die den Konsum der Gewaltbilder in Kategorien von Manipulation und Verführung fassen wollen. Für sie sind die Videokonsumenten nichts als Opfer, die falsch programmiert werden. Die Vorstellung vom quasi „Programmieren“ durch Medien konnte eine amerikanische Studie über Computerkids auf unerwartete Weise widerlegen. Kinder und Jugendliche am Computer, so die landläufige Vorstellung, werden selber bald viereckig wie der Bildschirm, vor dem sie sitzen, werden seelenlos wie die Maschine, die sie bedienen. Sherry Turkle vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) fand heraus: Während Kinder früherer Zeiten Tiere als ihre sozusagen nächsten Verwandten erlebten und sich von ihnen als intelligente Wesen abgegrenzt hätten, so grenzen sich Kinder heute, die mit Computern aufwachsen, von diesen als gefühlsbegabte Wesen ab.

Das Verhältnis der Kinder zu den Medien ist dialektischer und kreativer, als man denkt.

1) Joachim Heinrich Campe, Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Hamburg 1785, S.176.

2) Karl Gottfried Bauer, Über die Mittel dem Geschlechtstrieb eine unschädliche Richtung zu geben. Leipzig 1791, S.184

3) Jerry Marder, Schafft das Fernsehen ab. Reinbek 1979

4) Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, Frankfurt/Main 1985, S.190

5) ebenda.