Isolation und Hunger

■ Aus den Arbeitslagern und Gefängnissen der Volksrepublik China dringen kaum Nachrichten an die Außenwelt / Dem politischen Gefangenen Xu Wenli gelang es 1986, einen Bericht über seine Haftbedingungen an amnesty international zu schmuggeln / Seither werden seine Haftbedingungen verschärft

Der zu 15 Jahren Gefängnis verurteilte „Konterrevolutionär“ Xu Wenli ist heute 44 Jahre alt, verheiratet und hat eine neunjährige Tochter. Die Straftaten, die ihm von den Behörden zur Last gelegt werden, fallen in die kurze Periode zwischen der Entmachtung der sogenannten Viererbande (1976) und dem Beginn der achtziger Jahre, in denen Deng Xiaoping das Reich der Mitte auf wirtschaftlichen Reformkurs orientierte. Für wenige Monate schöpften Chinas Intellektuelle und Dissidenten damals Hoffnung auf eine Demokratisierung des verknöcherten Systems.

Der in Anqing, Provinz Anhui, geborene Xu Wenli, Sohn eines Arztes, gründete zusammen mit seinem Freund Liu Qing 1979 die Zeitschrift 'Forum 5.April‘. Xu, der sich selbst als Marxist bezeichnet, betont in Zeitungsaufsätzen die Notwendigkeit demokratischer Reformen, die aber seiner Ansicht nach unter der Führung der Kommunistischen Partei vonstatten gehen sollen. In einer „Denkschrift“, die er den Reformkadern in der Partei übermittelte, fordert Xu zu einer Ökonomie im Sozialismus auf, die mehr an Gewinn und Wettbewerb orientiert ist, um so die Produktivkräfte zu wecken. Ferner schlägt er eine Reduzierung der Armee vor und stellt die Frage, ob der Marxismus des 19.Jahrhunderts noch die Probleme des heutigen Chinas lösen könne. In der Nacht vom 9. auf den 10.April 1981 wird Xu Wenli von einem Großaufgebot von mehreren Dutzend Polizisten und Zivilbeamten in seiner Wohnung festgenommen.

Drohung mit Todesstrafe

Es folgt ein unwürdiges Verfahren. „Wenn du dich ordentlich benimmst, können wir dein Todesurteil auf lebenslänglich reduzieren... oder wir lassen dich sogar noch ganz laufen“, wird Xu nach eigenem Bekunden schon in den ersten Vernehmungen unter Druck gesetzt. An manchen Tagen muß er drei Verhöre über sich ergehen lassen, bei denen ständig sieben Beamte anwesend sind. Schlechtes Essen, ständige Einzelhaft und vollständige Isolation von der Außenwelt ruinieren in diesen Tagen seine Gesundheit. „Nur einmal pro Woche gab es ein ordentliches Teig- oder Reisgericht, und ein- oder zweimal war ein bißchen fettes Fleisch dabei.“ „Zu dieser Zeit wurde meine körperliche Verfassung von Tag zu Tag schlechter. Ich litt an einem so schmerzhaften Hexenschuß, daß ich kaum noch einen Eimer Wasser heben konnte.“

Während der 17 Monate, die er im Block K des Ersten Pekinger Stadtgefängnisses verbrachte, hatte er nie grundsätzliche Erlaubnis zum Hofgang. „Wenn ich ein- oder zweimal im Monat hinauskam, konnte ich schon von Glück reden.“ Xus Zelle war während der ganzen Zeit mit Abhörgeräten ausgestattet. Schreibpapier wurde ihm in den ersten Monaten keines ausgehändigt, ganz zu schweigen von Büchern und Zeitungen. Selbst als er nach acht Monaten Mitgefangene erhielt, wurde ihm ein Strafgesetzbuch verweigert, und seine Verteidigungsrede mußte er zeitweise auf Klopapier schreiben.

Xus Unfähigkeit, devot zu sein, eine Selbstkritik zu schreiben und sich der Übermacht sowie der Willkür des Behördenapparats zu beugen, haben sicherlich seine Lage immens verschlechtert. Immer wieder schildert er, wie er die aus seiner Sicht dümmlichen und arroganten Ermittler in Diskussionen verwickelt. Sie werfen ihm vor, antisozialistisch und ein Konterrevolutionär zu sein, doch auf seine Gegenfrage, wie die Beamten den Sozialismus definieren, erntet Xu nur: „Wir sind nicht hier, um akademische Diskussionen zu veranstalten.“

Unter der Drohung, anderenfalls auch seine Frau zu verhaften, die nie in Chinas demokratischer Bewegung engagiert war, wird er schließlich nach mehreren Monaten dazu erpreßt, den Behörden Belastungsmaterial gegen sich selbst auszuhändigen. Auch das Gerichtsverfahren, das am 8.Juni 1982 in Peking abgehalten wird, entbehrt jeglicher internationaler Rechtsnormen. Die psychische Vernichtung eines Staatsfeindes und „Antisozialisten“ scheint im Vordergrund zu stehen. Das Geschehen entwickelt sich zur Farce. Der Anwalt des Vertrauens wird Xu verweigert. Familienmitglieder dürfen den Gerichtssaal nicht betreten, und ein Befangenheitsantrag des Angeklagten gegen den Vorsitzenden Richter, der ihm schon vor der Verhandlung ein mildes Urteil versprach, wenn er gestehe, hat keine Chance.

Offenbar über Mitgefangene bemächtigt sich der Staatsanwalt der Verteidigungsrede Xus. Als der Dissident das bemerkt und im letzten Moment seine Argumentation umstellt, geht der vermeintlich gut vorbereitete Staatsvertreter trotzdem auf das ihm vorliegende Manuskript ein.

Nach einem erfolglosen Berufungsverfahren ist Xu Wenli gegen „Organisierung einer konterrevolutionären Bande“ und „konterrevolutionärer Propaganda“ zu insgesamt 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Neben den Diskussionen über Wiedervereinigung und die Gründung des „Chinesischen Bundes der Kommunisten“ hat er sich laut Urteil vor allem folgender Verbrechen schuldig gemacht: „Der Angeklagte Xu Wenli führte, was er eine 'Untersuchung des Volkswillens‘ nannte, durch, hielt Reden, schrieb Aufsätze, brachte Plakate an und verteilte Flugblätter. Er verzerrte die tatsächliche Lage und verwechselte Schwarz mit Weiß. (...) Er benutzte den Postweg, um seine Schriften im Ausland zu verteilen. Die Artikel enthielten Schmähungen und Lügen. Sie beschimpften unser Land als 'würdigen Feudalsozialismus‘. Sie riefen offen zu einer Reform des Gesellschaftssystems Chinas auf.“

Auf der Liste der beschlagnahmten Gegenstände, die das Mittlere Volksgericht der Stadt Peking dem Urteil anfügte, finden sich neben einer Druckmaschine zahlreiche politische Magazine aus Hongkong ('Cheng Ming‘, 'Mingbao‘, 'Seventiers‘), eine Menge Bücher (Was tun?, ein Gedächtnisband zum Tiananmen-Zwischenfall) und eine Ausgabe der 'Left-wing Review‘.

Xu sitzt seit dem 10.September 1982 wieder in Einzelhaft in Peking. Seine Haftanstalt bezeichnet er als wirkliches „Modellgefängnis“. - „Es gibt dreimal in der Woche etwas Besseres zu essen. Ich bekomme manchmal bis zu einem halben Jin (250 Gramm) Fleisch. In letzter Zeit waren die gedünsteten Klöße, die wir an Wintertagen erhielten, aus dem (hochwertigen) 'Kraft- und Wohlstandsmehl‘ hergestellt.“

Gekürzt dem Buch Reportagen aus China von Jürgen Kremb entnommen. Junius Verlag, 26,80 DM