„Seid froh, daß ihr in einem sozialistischen Gefängnis seid“

■ Geständnis und Reue sind die Ziele des chinesischen Strafvollzugs. Mit Zwangsarbeit, Umerziehung und regelmäßiger Selbstkritik sollen diese Ziele erreicht werden. Unser Korrespondent hat den Pekinger Jugendknast „Nummer Eins“ besucht

Jürgen Kremb

Ich hatte wenig Illusionen. In einem chinesischen Jugendgefängnis wird es so zugehen, dachte ich mir, wie der politische Kommissar Sun Guoxiang dreinschaut - unangenehm. Und Sun möchte ich abends nicht begegnen. Seine Augen sitzen tief in der Schädelhöhle. Die wenigen öligen Haare sind in Strähnen nach hinten gekämmt. Er spricht leise, mit kehliger Stimme und räuspert sich vor jeder Antwort. Ich könnte mir vorstellen, daß er sich über Neuankömmlinge beugt und flüstert: „Hier haben wir bisher jeden auf die Reihe gebracht.“

Oder habe ich da ein unhaltbares Vorurteil? Denn „Sun Tongzhi“ (Genosse Sun), wie ihn seine Mitarbeiter nennen, lächelt zunächst unter seiner olivgrünen Schirmmütze hervor und streckt uns die Hand zur Begrüßung entgegen. Genosse Sun ist Polizist und Polit-Kommissar. Und somit Vertreter der Kommunistischen Partei in der „Anstalt für Umerziehung von jugendlichen Straftätern Nummer Eins der Stadt Peking“. Umerzogen wird hier durch körperliche Arbeit.

„Das Jugendgefängnis ist kein Tabu unserer Gesellschaft mehr, das wir vor Ausländern verheimlichen wollen“, sagt der rundliche Direktor der Anstalt, Zhao Yu, zum grünen Tee bei einer Begrüßungsansprache. „Schließlich führen wir oft Ausländer hier durch, und sie alle sind begeistert von unserer Einrichtung.“ Trotzdem sei es keine Vorzeigeanstalt, sondern „bestenfalls Mittelmaß im Landesdurchschnitt“. Vor allem sei es die einzige in Chinas Hauptstadt. Darauf legt er Wert.

Schwer zu finden war er trotzdem, der Jugendknast „Nummer Eins“. Lange fuhr das Taxi durch Pekings Außenbezirke, wo jetzt Wolkenkratzer im Billigbaustil in Windeseile hochgezogen werden. Später ging es durch ärmliche Dörfer. 30 Kilometer außerhalb Pekings haben es selbst hier viele Bauern trotz Reform gerade zu einem Lehmhäuslein gebracht. Für Jugendliche aus der Hauptstadt, die hier inhaftiert werden, muß es schon eine kleine Verbannung sein. Hinter knapp vier Meter hohen und gut 500 Meter langen Lehmmauern liegen ein paar heruntergekommene Bauten. In der Mitte ein Sportplatz, der einem Exerzierfeld gleicht, dahinter ein paar trockene Gemüseäcker. Zwischen den verrosteten Eisenbeinen der Wachtürme pfeift ein kalter Wind hindurch. Doch niemand schiebt dort oben Wache. Auch das Pförtnerhäuschen ist heute leer, und das große Eingangstor steht weit offen.

Ist das keine Einladung zur Flucht? „Nein“, erklärt der politische Leiter Sun im väterlichen Ton. „Wir setzen hier auf die soziale Einsicht der Kinder.“ Aber wenn sie die nicht haben, ist es auch kein Problem. „Die laufen ohnehin zu ihren Eltern, und dort haben wir sie bald wieder.“

Soziale Einsichten werden in dem Jugendgefängnis freilich nicht von Sozialpädagogen oder Psychologen vermittelt, sondern von Mitarbeitern des staatlichen Sicherheitsbüros. „Einige unserer Leute melden sich freiwillig zu dieser Arbeit, andere werden zugeteilt“, sagen die Kader. „Wir sind hier insgesamt 270 Polizisten, die 700 jugendliche Straftäter verwalten. Doch einige von uns“, formuliert es Direktor Zhao umständlich, „sind als Erziehungswärter, Angestellte oder Lehrer beschäftigt.“ „Es geht hier sehr herzlich zu“

„Die jugendlichen Straftäter leben alle ein sehr reglementiertes Leben“, fällt ihm der politische Leiter Sun Guoxiang ins Wort. „Dennoch ist es unser Ziel, daß die Beamten zu den Insassen ein Verhältnis wie Eltern-Kind, Arzt -Patient und Lehrer-Schüler aufbauen.“ Er glaubt: „Es geht hier sehr herzlich zu.“ Darüber könnte man streiten. Denn hart zu bestrafen und umzuerziehen ist immer noch die Prämisse der „Erziehungswärter“ aus dem Pekinger „laogai -suo“ - der Anstalt zur Umerziehung durch Arbeit.

„Unser Hauptziel ist, daß die Jugendlichen ihr Verbrechen zugeben und bereuen“, sagt Sun streng. „Danach geben wir ihnen eine Erziehung, um ihr zivilisatorisches Niveau anzuheben und sie zu Menschen zu machen, die für unser Land nützlich sind.“ Politische Erziehung steht deshalb ganz oben auf dem täglichen Stundenplan. Dann folgt „moralischer“ und „zivilisatorischer“ Unterricht. Erst danach ist normale Schule mit Mathematik, Geographie und Chinesisch angesagt. „Wir wollen, daß die Kinder in der zivilisatorischen Erziehung wieder 'danke‘, 'bitte‘ und 'Verzeihung‘ sagen lernen“, wirft ein weiblicher Kader ein. „Sie sollen lernen, die öffentliche Moral zu achten und die staatliche Ordnung nicht zu stören.“ Die Hauptverantwortung dabei trägt der Polit-Kader. Er überwacht die Umerziehung und will, „daß die Straftäter die Qualität des Sozialismus erfahren“.

Das dürfte mitunter schwerfallen. Denn „das einzige, dessen sich Chinesen nach fast zwei Jahrtausenden zentralstaatlich bürokratischer Herrschaft sicher sein können“, heißt es in einer Länderkunde über die Volksrepublik China, „ist die Tatsache, daß im Zweifelsfalle das Recht immer bei der Staatsseite liegen wird“. Auch im sozialistischen China Deng Xiaopings sind die Gefängnisordnungen rigid. „Gefangene sollen dazu beitragen, die Straftaten anderer Mithäftlinge aufzudecken“, zitierte die sinologische Fachzeitschrift 'China Aktuell‘ im Juli 1980 aus der Gefängnisordnung des Pekinger „laogai-suo“. „Ferner wird von ihnen verlangt, daß sie sich gegenseitig überwachen und nichts gegenüber der Leitung der Haftanstalt verheimlichen. (...) Die Gefangenen dürfen im Gefängnis auch nicht über ihre familiären Angelegenheiten reden oder anderen Häftlingen ihre Heimatadresse mitteilen.“

Auch amnesty international (ai) teilt den Berufsoptimismus von Polit-Kommissar Sun und Gefängnisdirektor Zhao nicht. Laut Berichten der Gefangenen-Hilfsorganisation existierten in einer Haftanstalt Chinas im letzten Jahr noch Folterkäfige, in denen die Opfer weder stehen noch ausgestreckt liegen oder sitzen konnten. Das beschriebene Arbeitslager lag nur 30 Kilometer von Peking entfernt. Es war freilich für Erwachsene bestimmt. „Die Einsamkeit ist ein Skalpell“

Aus einer Broschüre eines amtlichen volkschinesischen Verlages zitiert dazu ai: „Jedes Gefängnis hat eine kleine Zelle. (...) Ein Einzelzimmer für Sträflinge. Die Gäste leiden weder unter Sonne noch Wind noch Sand. (...) Die kleine Zelle ist kein Sanatorium. Es ist ein Operationstisch für Häftlinge. Die Einsamkeit ist das Skalpell, mit dem die Patienten von ihrem Übermaß an Spaß und Lebensfreude befreit werden.“

Wei Jingsheng, Xu Wenli, die beiden Dissidenten, die 1979 Wandzeitungen an der „Mauer der Demokratie“ anschlugen, und noch viele andere, deren Namen wir im Westen nicht kennen, wurden so zugrunde gerichtet.

In der Umerziehungsanstalt für jugendliche Straftäter soll das anders sein, sagen die drei Kader vom Führungsteam und begleiten mich endlich in den Jugendtrakt hinüber. „Hier können Sie Ihre Vorurteile gegen den chinesischen Strafvollzug gegen wirkliche Erfahrung und Wissen austauschen“, meint ein Begleiter. Schließlich sei es auch Deng Xiaopings Losung: „Aus den Tatsachen lernen.“ Doch habe ich bei offiziellen Führungen in China manches Mal meine Zweifel, was Tatsachen und was potemkinsche Dörfer sind, die für ausländische Besucher und Journalisten errichtet wurden. Auch zehn Jahre nach Ende der Kulturrevolution ist bei der chinesischen Perestroika und Glasnost, der „duiwai kaifang“ (Westöffnung) und „jingji gaige“ (Wirtschaftsreform), Kosmetik noch immer eine wichtige Komponente. Nicht nur Polit-Kommissar Sun und Direktor Zhao haben ihr Gesicht zu verlieren.

Das Gebäude für männliche Insassen ist ein schäbiger, dreistöckiger Betonbau. Lautsprecherdurchsagen hallen hier über das ganze Areal. Eine Stimme bleut die Regeln für ordentliche Lebensführung und die neueste Parteipolitik ein. Im Gegensatz zum Haupttor ist hier die Tür mit einer Eisenkette doch fest verschlossen.

Die Atmosphäre hat auf den ersten Blick etwas von einem Pfadfindercamp. Nichts erinnert an die technisch perfektionierte Verwahrung von bundesdeutschen Gefängnissen

-wenig an Isolation und Strafe. Beiderseits des Flurs liegen Schlafräume, Klassenzimmer und Freizeiträume. Auf dem Stockwerk selbst scheinen keine Türen verschlossen. Sicherlich ist es keine Luxusherberge, aber auch nichts erinnert an ein Arbeitslager. Lediglich die Fenster sind vergittert. Die Kinder und jungen Männer tragen Anstaltskleider; ihre Haare sind kurzgeschoren. Acht Aufseher in der olivgrünen Uniform des staatlichen Sicherheitsbüros kümmern sich um jeweils 90 Jugendliche in ihrem blauen Maodrillich.

Sobald wir ein Zimmer betreten, vollzieht sich ein Ritual von militärischer Ordnung. Wer Blau trägt, springt auf, steht stramm und spricht kein Wort. Sie stehen wie die Zinnsoldaten: lautlos, mit einem Blick, der nicht zu Kindern paßt. Kein Knistern von Kleidung, kein Reiben von Schuhen auf dem Beton, es wird kein Wort gesprochen.

Ist es nur die Angst vor dem Ausländer? Gehirnwäsche oder Repression? Funktionierende, umerzogene Kinderroboter? Vokabeln, die naheliegen, aber nicht passen mögen. Das Land der Mitte ist immer wieder der Ort, wo meine Raster nicht mehr greifen, meine Wertskalen durcheinander geraten. Ich weiß von den brennenden Problemen des armen Entwicklungslandes China, der stetigen Angst vor dem innerstaatlichen Chaos und der daraus resultierenden konfuzianischen Disziplin und Härte - aber ist dies der einzige Lösungsansatz?

Schließlich darf ich die jungen Leute selbst ansprechen.

„Kann ich dich fragen, wie du heißt und wie alt du bist?“

„Ich heiße Wang Yiping, 18 Jahre.“ Yiping nuschelt furchtbar.

„Und was hast du verbrochen?“

„Ich habe Geld und Wertsachen geklaut.“

„Wieviel?“

„900 Renminbi.“ Das ist etwa der vierfache Monatslohn eines Fabrikarbeiters.

„Wie wurdest du bestraft?“

„Drei Jahre.“

Wie bei allen Jungen ist sein Blick demütig zu Boden gerichtet. Einmal im Monat dürfen ihn seine Eltern besuchen, sagt er. Yipings Vater ist Kader. „Ich bitte die Gesellschaft

um Verzeihung“

Der schmächtige Kang Eryuan (17) ging mit einem Freund auf Diebestour. Zusammen haben sie Geld und zwei Fahrräder gestohlen. Zwei seiner drei Jahre hat er schon abgesessen.

„Warum habt ihr das gemacht?“ frage ich.

Hilflos sucht er den Blickkontakt zum Lehrer und sagt dann: „Ich verstand nichts von den Gesetzen und hörte nicht auf meine Eltern.“

„Und bereust du das?“

„Ich bereue zutiefst und bitte meine Eltern und unsere Gesellschaft herzlich um Verzeihung.“

Antworten so Jugendliche und Kinder? Ich war noch nie in einem deutschen Jugendknast.

Ein enger täglicher Stundenplan zwingt die Kinder zur Disziplin. „Morgens um 6.30 Uhr müssen unsere 'kleinen Kinder‘ aufstehen“, erklärt Zhao fast ein bißchen zu sorgenvoll den Tagesablauf seiner halbstarken Zöglinge. „Bis 7.30 Uhr geht's zum Waschen, dann gibt's Gymnastik und um 8 Uhr beginnt die 'Kulturklasse‘.“ Nach dem Mittagessen um 12 Uhr stehen mehr als vier Stunden körperliche Arbeit an. Die jugendlichen Straftäter bestellen Gemüsefelder, pflegen Obstkulturen und arbeiten in einer Fischzucht. Abends nach der „Spielstunde“ schreiben die jungen Gefängnisinsassen ihren Tagesbericht. „Die Kinder sollen darin selbst untersuchen, was sie gut und was sie schlecht gemacht haben“, sagt Anstaltsleiter Zhao Yu. Ist die Selbstkritik zufriedenstellend, gibt's zur Belohnung eine Stunde Fernsehen, bevor um 9.30 Uhr das Licht ausgeht.

Polit-Kommissar Sun Guoxiang gibt sich alle Mühe: „Nach §14 der Verfassung der Volksrepublik China“, rasselt er seinen Standardvortrag über die rechtlichen Grundlagen der Haft herunter, „dürfen Kinder unter 16 Jahren nicht verurteilt werden. Doch wenn es notwendig wird, übernimmt der Staat die Erziehungsgewalt.“ Dann ist das Sicherheitsbüro „gongan-ju“ für sie zuständig, und sie werden für ein, zwei oder drei Jahre zur „Umerziehung durch Arbeit“ geschickt. Laut Statistik, die in China stets bei solchen Führungen zahlreich präsentiert werden, sind von den Jugendlichen in der Pekinger Anstalt 51,9 Prozent wegen Diebstahls und 25,7 Prozent wegen Vergewaltigung verurteilt worden. 6,4 Prozent waren Rowdies.

Zu den 400 Kindern, die in der „laogai-suo“ verwahrt werden, kommen noch einmal 300 bereits straffähige 16- bis 18jährige hinzu. Überschreiten diese das Volljährigkeitsalter und haben ihre Strafe noch nicht ganz abgesessen, werden sie in der Regel in eine der zahlreichen Gefängnisse für Erwachsene im Gerichtsbezirk der Hauptstadt abgeschoben. Von den Älteren sitzen 20,5 Prozent wegen Diebstahls, 30,5 Prozent wegen Raubes und 7,2 Prozent wegen Rowdytums hinter chinesischen Gardinen. Aber 46 Prozent dieser Halbstarken gelten als Vergewaltiger. Rowdytum, Diebstahl

und „Sexualdelikte“

Warum begehen so viele Jugendliche im spröden chinesischen Sozialismus der Reform Sexualdelikte? „Wie sollen wir das wissen“, sagt Ober-Erziehungswärter Zhao Yu verlegen, „vielleicht lesen sie etwas Verbotenes, das sexistische Tendenzen aufweist.“ Das klingt wie die offizielle Parteiverlautbarung, mit der die KP-Führung im letzten Jahr zahlreichen Schriftstellern das Leben schwer machte. „Die Wahrheit dürfte freilich sein, daß nicht erlaubte, voreheliche sexuelle Kontakte als Vergewaltigung geahndet werden“, schrieb vor einigen Jahren das Wirtschaftsblatt 'Far Eastern Economic Review‘ dazu.

Auch ist mir unklar, was Rowdytum in China bedeutet. Denn als Rowdies wurden nach Berichten des Hongkonger Magazins 'Zhengming‘ in den letzten Jahren sogar der Sohn von KP-Chef Zhao Ziyang sowie die Stammhalter des Vizepremiers Wan Li und des Politbüro-Mitglieds Yang Shangkun verhaftet. Doch während die bekannten Kader-Sprößlinge nach wenigen Stunden wieder auf freien Fuß kamen, sitzen die Jugendlichen hier wegen „liumang-zui“ (Rowdytum) bis zu drei Jahren ein. „Rowdytum ist herumlungern, Frauen terrorisieren, Vekäuferinnen in einem Geschäft verprügeln“, antwortet Sun nach kurzer Bedenkpause - „meistens in einer Gruppe.“ Daß es organisierte Jugendbanden gibt, glaubt er nicht. Doch in Wahrheit gehört die Jugendkriminalität zu den negativen Begleiterscheinungen der Reform. Offizielle Zahlen gibt es darüber kaum. Jedenfalls nicht, wenn Ausländer zuhören.

Dennoch geben die Kader zu, daß in den letzten Jahren Eigentumsdelikte zugenommen haben. „Heute werden mehr Kassettenrecorder, Farbfernseher und Motorräder gestohlen“, sagt Zhao. Mörder allerdings sitzen nicht im „laogai-suo“, sie sind auf andere Gefängnisse Pekings verteilt. Auch wenn es noch Kinder sind.

Wir werden in einen Schlafraum geführt: ein länglicher, schlichter Raum mit vier Doppelstockbetten aus Metallrohr. Auf jedem Bett liegen eine dünne Matte und ein verwaschenes Laken. Vor dem vergitterten Fenster sind acht Emaillewaschschüsseln und Thermosflaschen aufgereiht. Acht Jungen sitzen am Fußende ihres Bettes neben einem zusammengerollten Bündel Baumwolldecken. Als wir eintreten, müssen sie strammstehen. Nicht nur das Raumklima ist frostig, sondern auch die Stimmung. Der 17jährige Liu Erjian ist hier gewählter Zimmersprecher. Doch das kann er nur werden, wenn auch die Anstaltsleitung zustimmt. Erjian muß zwei Jahre wegen eines Fahrraddiebstahls absitzen.

„Ja, natürlich waren meine Eltern traurig, als sie von meinem Verbrechen hörten“, sagt er. Kein Wunder: Nach konfuzianischem Verständnis hat die Familie die soziale Verantwortung für mißratene Angehörige mitzutragen. Das ist auch im sozialistischen China nicht viel anders. Selbst in der Kulturrevolution mußte nicht selten die ganze Sippe blutig für ihre „schlechte Herkunft“ büßen.

Erjian fröstelt und ist in eine dicke Baumwolljacke eingepackt. „Nein, zu kalt ist es nicht“, findet der Kleine trotzdem. „Wir haben doch eine Heizung hier.“ Und selbst sein Essen, für das die Gefängnisverwaltung nur umgerechnet zehn Mark pro Monat ausgibt, findet er „besser als zu Hause“.

Sicherlich hat Erjian den zweifachen Monatslohn eines chinesischen Arbeiters gestohlen. Doch wie lang sind zwei Jahre mit 17? „Unser Land ist großartig“

„Im Nebenzimmer haben wir eine Computerklasse eingerichtet“, strahlt jetzt Kommissar Sun das erste Mal richtig und zeigt seine gelben Zahnstümpfe. Zu dritt drängeln sich die Teenager vor jeweils einem Keyboard und tippen dem Ausländer was vor. Daß sie nicht strammstehen müssen, als ich eintrete, ist einer der Gründe, warum ich glaube, daß mir hier was vorgeführt wird. Jetzt übertreiben Sie aber, Herr Direktor. Über solch‘ eine Ausstattung würde sich selbst mancher Hochschüler freuen. Aber Realität ist in China eben manches Mal lediglich das, was das Büro für „Auswärtige Angelegenheiten“ dazu bestimmt. Es ist nicht immer einfach, wie Deng Xiaoping es möchte, nur aus Tatsachen zu lernen.

Der Mädchentrakt liegt hinter schweren Eisentüren beim nahen Sportplatz. Insgesamt stellen die Mädchen nur ein Siebtel aller Insassen. Jia Zhengxin (15) muß aufstehen und erzählen, wie sie straffällig wurde.

„Ich habe Geld geklaut, weil meine Geltungssucht zu groß war“, piepst sie verlegen.

„Was haben deine Eltern dazu gesagt?“ frage ich.

„Als mein Vater das hörte, wurde er schwer krank und starb bald darauf.“

„Findest du nicht, daß deine Strafe von zwei Jahren zu hoch ist?“

„Die Strafe ist richtig, ich habe hier die Gelegenheit, mich zu bessern. Außerdem ist unser Land großartig, es kümmert sich um uns, und es gibt auch keine Bosse, die mir später wegen meines Gefängnisaufenthaltes das Leben schwer machen könnten.“

Auch die kleine Jiang Yan verbüßt wegen eines geringfügigen Diebstahls zwei Jahre in der Anstalt für Umerziehung durch Arbeit. Wie sie stammen 80 Prozent der jugendlichen Straftäter aus einer Arbeiter- oder Bauernfamilie. Jiangs Mutter verdient sich ihren Lebensunterhalt in einer Autofabrik. Ihr Vater ist Arbeiter in einem Eisenbahnwerk. Tagsüber kümmerte sich niemand um sie. Die meiste Zeit verbrachte Jiang Yan deshalb nach der Schule allein zu Hause. Eines Tages ging sie mit „Rowdies auf Tour und hat von deren Diebesgut gegessen“. Doch so genau darf das nur die Aufseherin erzählen. „Die Kinder sind nämlich dazu verpflichtet, bei uns nicht über ihre Straftaten zu sprechen“, sagt sie.

Wie sehr läßt man die Insassen hier noch Kinder sein? Eine Frage, die ich wohl bei einem Rundgang nicht ergründen kann, der vielleicht Wochen vorher mit den Kindern mehrmals geübt wurde. Sicherlich war meine letzte Frage nicht dazu angetan, dem näherzukommen. „Die Wärterin ist wie eine Mutter“

„Hast du nie Heimweh, Jiang Yan?“

„Ich habe nur noch selten Heimweh, denn die Wärterin ist wie eine Mutter zu uns“, sagt die Kleine, während sie verlegen zur Aufseherin blickt.

„Die Rückfallquote hier liegt bei nur fünf Prozent“, hatte Kommissar Sun bei der Begrüßungsansprache gesagt. Ob das dem Abschreckungseffekt oder der strengen militärischen Disziplin zu verdanken ist? Ich bin mir nicht so sicher wenn die Zahl überhaupt stimmt. „Manchmal“, meint die Mitarbeiterin des staatlichen Sicherheitsbüros und geleitet uns ins Freie, „habe ich ja ein Herz für die armen Kinder hier. Dann empfinde ich ein tiefes Mitleid für sie.“

Polit-Kommissar Sun, dem ich abends nicht begegnen möchte, wartet schon beim Taxi. Die Stimme aus dem Lautsprecher erklingt immer noch. Und Sun lächelt jetzt fast väterlich er scheint jedenfalls sehr zufrieden. „Ich hoffe, Sie haben sich ein gutes Bild von unserem Strafvollzug machen können“, verabschiedet er sich zuerst von mir und dann von meiner Frau, der Auslandschinesin. „Ja, ich habe keinen schlechten Eindruck“, sage ich und bin einen Moment lang auch überzeugt von dem, was ich gesehen habe. Aber die Schriftzeichen im Flur des Jungentrakts konnte ich in der Eile nicht lesen. Meine Frau hat sie deshalb mitgeschrieben. „Seid froh, daß ihr in einem sozialistischen Gefängnis seid“, stand dort unter zahlreichen Moralregeln auf einer großen Wandtafel. „Im Kapitalismus nämlich werden selbst Diebe zum Tode verurteilt.“