Neue Zufahrt für Friedhofsparzelle 301

Ganz Ungarn fiebert dem 16.Juni entgegen / Die von höchster Stelle genehmigte Aufarbeitung des Aufstandes von 1956 erweckt die ganze Nation aus ihrer politischen Lethargie / Vorbereitung zur Beisetzung von Imre Nagy  ■  Aus Budapest Roland Hofwiler

Vier Jumbo-Jets, die „Ex-56er“ in New York für eine Ungarn -Sonderreise charterten, sind schon ausgebucht, meldeten am Mittwoch die Budapester Tageszeitungen. Und alle kämen sie zum „Nationaltrauertag am 16.Juni“ in die alte Heimat. Bela Kiraly ebenso wie Sandor Kopacsi, Pal Maleter Junior und viele viele andere. Lech Walesa habe sich angesagt sowie zahlreiche andere Politprominenz aus dem westlichen Ausland. Daher seien alle Hotels in der Hauptstadt für Juni bereits ausgebucht.

„Ex-56er“ nennt die Parteipresse Männer, die noch vor kaum einem halben Jahr in den gleichen Zeitungsspalten als „unverbesserliche Konterrevolutionäre“ und „Staatsfeinde ersten Ranges“ beschrieben wurden. Denn die drei gelten als die bedeutendsten Überlebenden des ungarischen Volksaufstandes von 1956: Bela Kiraly war der General der aufständischen Armee und organisierte den bewaffneten Kampf gegen die anrückenden sowjetischen Panzer. Sandor Kopacsi, Ex-Polizeichef von Budapest, zählte sich ursprünglich zu den moskautreuen Kommunisten und war Gegner des Reformers Imre Nagy. Doch als die Sowjetunion das Nagy-Kabinett durch „brüderliche Hilfe“ gewaltsam zu beseitigen versuchte, wechselte Kopacsi mit seinen Leuten die Fronten und kämpfte für Ungarn. Pal Maleter ist der Sohn des ehemaligen Verteidigungsministers, der zusammen mit Imre Nagy und den Regierungsmitgliedern Miklos Gimes, Jozsef Szilagyi und Geza Losonczy beim Einmarsch der Truppen im November 1956 verhaftet und am 16.Juni 1958 hingerichtet wurde.

Was alle Freiheiten und Zugeständnisse der neuen Parteiführung um Imre Pozsgay bislang nicht vermochten, scheint jetzt durch die genehmigte Aufarbeitung der Geschichte von 1956 zu gelingen: Breite Schichten der Bevölkerung erwachen aus ihrer politischen Lethargie, ein Ruck geht durch das Land. Pro Woche werden Hunderttausende von Büchern verkauft, die alle nur ein Thema haben: die Revolution unter Imre Nagy. Aber nicht nur Kopacsis Memoiren, bisher nur im Westen verlegt, finden reißenden Absatz. Auch die Bücher anderer Zeitzeugen werden heute in Vorstadtkneipen, Kaffeehäusern oder einfach auf der Straße diskutiert.

Sechs Särge

„Dieser Toten wird die ganze Nation nun gedenken, und mit uns Europa“, meldeten die gestrigen Zeitungen. 'Magyar Hirlap‘, die (noch) kommunistische Regierungszeitung, schreibt: „Die Trauerzeremonie beginnt am 16.Juni um 12 Uhr 30 auf dem Heldenplatz, wenn in Ungarn, der USA und mehreren europäischen Staaten die Glocken läuten werden. Es werden sechs Särge aufgebahrt, der von Imre Nagy, Miklos Gimes, Geza Losconczy, Pal Maleter sowie Jozsef Szilagyi. Mit dem sechsten Sarg wird des unbekannten Revolutionärs gedacht.“

Wenngleich die Spitzen von Staats- und Parteiführung beinahe über Nacht von „Revolution“ sprechen, ohne den Beisatz „die in eine Konterrevolution mündete“ zu gebrauchen, wie es nach geltendem Parteibeschluß vom Februar eigentlich sein müßte, wurden sie höflich, aber bestimmt von den Angehörigen der Toten und den neuentstandenen informellen Gruppen und Parteien vom „Nationalbegräbnis“ ausgeladen. Vor allem Imre Pozsgay, Staatsminister und Politbüromitglied, der ungarische Jelzin, dem die Aufarbeitung der Geschichte zu verdanken ist, muß es beklemmend vorkommen, daß auch er von den Feierlichkeiten ausgeladen wurde. Er hofft, über die Ende des Monats einberufene Parlamentssitzung einen Kmpromiß mit den Oppositionsgruppen erzielen zu können.

Derweil wird an den Parzellen 300 und 301 des Budapester Zentralfriedhofs gebaggert und zementiert, Zufahrtsstraßen errichtet, Blumenbeete und Grabwege angelegt. Wo man sich noch vor einem halben Jahr über durchwildertes Weiden- und Heckenrosengestrüpp in die hinterste Ecke des Friedhofes „heranpirschen“ mußte, tritt erst friedhöfliche Stille ein, wenn die Sonne untergeht, die Bauarbeiter Feierabend machen. Dann trifft sich das kleine Häufchen der Altdissidenten, um frische Blumen am „Kopja Fa“ niederzulegen, einem roh behauenen Eichenstamm, wie er schon vor Jahrhunderten traditionell in diesen Breiten für Tote errichtet wurde und den die Polit-Art-Gruppe „Inconnu“ den Erhängten widmete.

Blumen statt Polizei

Man erinnert sich dabei auch an die Vergangenheit, als man nicht einmal sicher ging, ob an dieser Stelle denn tatsächlich die Akteure von 1956 heimlich verscharrt wurden oder nicht und nur die Polizeieinsätze gegen die Trauergäste, die mehrmals im Jahr zur Parzelle 301 pilgerten, darauf schließen ließen, daß dort die Revolutionäre tatsächlich verscharrt wurden. Erst im vergangenen November erlaubten die Behörden die offizielle Errichtung des „Kopja Fa“. In wenigen Wochen soll neben dem mannshohen Holzpfahl ein großer Marmorstein für die Revolutionäre um Nagy eine letzte würdige Ruhestätte bieten.