„Jeder meint, nur er wär‘ der Deutsche“

Neue Aussiedler sorgen in der Vertriebenenstadt Waldkraiburg für Ärger / Alte Vertriebene fühlen sich benachteiligt / Unmut über Kohlsche Wendepolitik / Zu viele Neuansiedler - zu wenige Arbeitsplätze / Neue Aussiedler fühlen sich wohl  ■  Von Luitgard Koch

Waldkraiburg (taz) - Am weiß-blauen Maibaum auf dem Stadtplatz hängen die bunten Wappen aus Siebenbürgen, Schlesien, dem Sudetenland und den Banater Schwaben. Schräg gegenüber im Cafe Brosch hat der Besitzer im ersten Stock eine Reihe vergilbter Fotos aus seiner alten Heimat, dem ostböhmischen „Braunauer Ländchen“, ausgestellt. Eine Urkunde prangt an der Wand „für treue Mitarbeit am Dienste der Heimat“.

Im südostbayerischen Waldkraiburg hat das Wort „Heimat“ einen besonderen Klang. Der inzwischen auf über 22.000 Einwohner angewachsene Ort wurde 1950 von Vertriebenen aus den „Ostgebieten“ gegründet. Sie lebten in den Bunkern und Baracken eines ehemaligen Rüstungsbetriebs in einem Waldstück. „Mit Fleiß und Willen, ausgestattet mit den verschiedensten Fähigkeiten fingen 1.900 Vertriebene, vor allem Sudetendeutsche, aber auch Schlesier, West- und Ostpreußen, Siebenbürger und Barnater, an, sich auf den Trümmern einer zerstörten Munitionsfabrik eine neue Heimat zu schaffen“, verkündet stolz die Festschrift zum 19. Braunauer Heimattag. Und stolz holt auch Bürgermeister Jochen Fischer einen alten Fotoband aus der Schrankwand seines Amtszimmers im Rathaus. „Hier hat einer sein Haus gleich auf den Bunker gebaut“, schmunzelt der 57jährige Schlesier aus der Gegend von Breslau. Der Wohnungsbau war und ist in der ersten Vertriebenengemeinde der BRD seit jeher ein Problem. „Explosionsartig“, so Fischer, habe sich der Ort vergrößert. „Es gab Zuzugsjahre mit 1.000 bis 1.500 Einwohnern“, betont Fischer. Die Folge: „Daß wir bis heute noch nicht mit dem Wohnungsbau zurechtgekommen sind, wir haben nur gebaut und gebaut“.

„Nachlieferung

von Aussiedlern“

Daß darunter auch die städtebauliche Qualität gelitten habe, räumt der ehemalige Chemiker ein. Zwar rühmt sich Waldkraiburg als „junge Stadt im Grünen“, doch zwischen all den Parks und Tannenbäumen glänzt der Beton. Selbst die Kirche mit dem behäbigen Zwiebelturm, ein gewohntes Bild im Inntal, fehlt. Statt dessen wächst unweit vom Betonflachbau des Rathauses der fahlgraue „Campanile“ der katholischen Christ-König-Kirche aus den Steinplatten.

Ursache für Wohnungsbau- und Arbeitsplatzprobleme der Stadt ist, so Fischer, „die Nachlieferung von Aussiedlern“. Die beiden Aussiedlerheime in Waldkraiburg gibt es bereits seit fünfzehn Jahren. Derzeit wohnen dort rund 500 Personen, Rumänen, Polen, Russen und einige wenige Familien aus der DDR.

„Zvui moane werns scho“, sinniert der 46jährige Schichtarbeiter in breitesten Bayrisch auf der Parkbank gegenüber dem Rathaus. Mit acht Jahren kam er mit seinen Eltern aus Schlesien nach Waldkraiburg. Seinen Namen möchte er lieber nicht nennen, aber auch er weiß: „Schimpfa dean alle, weil de bevorzugt wern.“ Seine Einstellung dazu: „Warum sollns des Geld ned nehma, wenns eana da Staat gibt?“ Auf der Plakatwand neben ihm werben „Republikaner“, DVU und die Altparteien für die Europawahl. Wenige Schritte davon entfernt klebt ein Brief an einem Transformatorenhäuschen. „Es ist langsam an der Zeit, den Mann Dr. H.J. Vogel von der SPD einzusperren, der Mann wird gefährlich... Wenn diese 1939 die Macht übernommen hätten, was wäre noch viel Schlimmeres gekommen als beim Göring, Himmler und A.H.“, wendet sich der Schreiber mit steiler Schrift an die „hohen Damen und Herren von CSU/CDU“. „Ein Spinner, dem ist die Frau davongelaufen“, winkt der Arbeiter ab. Für ihn dagegen steht fest: „De wo dro san, wähl i nimma.“ Mit dieser Haltung steht er nicht allein. Ob das Ehepaar aus dem benachbarten Aschau, die Bauern aus dem Umland, das Rentnerpaar aus Köln, das im „schönen Bayern“ seinen Lebensabend verbringen will, oder der Vorsitzende der „Egerländer Gmoi“, Walter Spiegel: enttäuscht von der Wendepolitik sind sie alle. Ein wichtiges Stichwort ist dabei die Rente. Besonders in diesem Bereich würden die Aussiedler bevorzugt, heißt es.

Futterneid

und Sprachprobleme

„Freilich gibt's Probleme, ein Deutscher, der mit seiner Enkelin nur polnisch spricht, da gibt's Ärger“, weiß der 64jährige Vorsitzende der Isergebirgler, Gerhard Lang. Daß es Unmut über die bessere Unterstützung von neuen Aussiedlern gibt, gesteht auch Walter Spiegel. Im Verein werde jedoch nicht so offen darüber gesprochen wie privat.

„Wir haben im Wohnheim nix gspürt, das ist bei der Fernsehsendung bloß zurechtgebogen worden“, wehrt die stellvertretende Heimleiterin, Elfriede Mühlberger, hinter ihrem Schreibtisch zunächst ab. „Futterneid gibt's doch überall“, zuckt die 42jährige mit den Schultern. Gleichzeitig gibt sie jedoch zu, daß gerade Aussiedler, die zehn oder fünfzehn Jahre hier sind, den „Nachzüglern“ ihre Vergünstigungen nicht gönnen. „Jeder meint, nur er wär‘ der Deutsche, der andere nimmer.“ Im Durchschnitt wohnen die Aussiedler ein Jahr im Übergangswohnheim. Nach Ansicht der Heimleiterin wird sich diese Aufenthaltsdauer jedoch mit zunehmender Wohnungsnot erhöhen. Die Neuregelung, daß Aussiedlern demnächst ihr Wohnort zugewiesen werden soll, wurde bislang noch nicht praktiziert. „So weltbewegend“ sei diese Regelung sowieso nicht, glaubt Frau Mühlberger. Sobald einer Arbeit oder auch nur einen Sprachkurs nachweisen könne, könne er in Waldkraiburg bleiben. Die rund 9.000 Arbeitsplätze in der „Industriestadt im Grünen“ reichen jedoch bei weitem nicht aus. Da Waldkraiburg inzwischen jedoch zum industriellen Schwerpunkt des südostbayerischen Landkreises Mühldorf wurde, suchen immer mehr Nebenerwerbslandwirte aus dem vorwiegend ländlich strukturierten Gebiet Arbeit in der Vertriebenenstadt.

„Ich bin hier zu Hause und möcht‘ auch hier mein Leben beschließen“, davon ist die 60jährige Elisabeth Dudenhofer aus Kasachstan überzeugt. Mit ihrem Mann und seiner 95jährigen blinden Mutter bewohnt sie seit knapp sechs Monaten ein winziges Zimmer im Heim an der Warnsdorferstraße, das sich von außen kaum von den anderen Wohnblöcken der Nachbarschaft unterscheidet. Der Fernseher läuft. An der Wand stehen zwei Stockbetten, daneben hinter einem Vorhang ein Waschbecken. Ein Glas Wein wird mir angeboten. Das Fotoalbum, mit dunkelroten Samt umwickelt, ausgepackt. Die grauhaarige agile Frau wirkt zufrieden. Alle Leute hier seien „gutherzig“. Vor allem die „ordentlichen“ deutschen Friedhöfe, die „deutsche Erde“, haben es ihr angetan. Auf den russischen Friedhöfen störte sie vor allem der Sowjetstern über jedem Grab. „Wenn man hier auf den Friedhof geht, da hat man ja Lust zu sterben“, strahlt die Mutter von drei erwachsenen Söhnen. Wenn alles klappt, werden die Söhne mit ihren Familien Anfang Juni einreisen. Welcher Partei sie bei den Europawahlen ihre Stimme geben wird, weiß sie noch nicht. „Kohl, der hat uns reingeholt“, erklärt ihr Mann, ein gelernter Elektroschweißer, dagegen sehr bestimmt.