Gastkommentar: Kalte Macht

■ In China wurde hinter den Kulissen der Staat stabilisiert

GASTKOMMENTAR

Man hätte schon stutzig werden müssen, als vor ein paar Tagen alle Berichterstatter aus Peking „Entspannung, Entspannung“ riefen. Die Militärlastwagen und Panzer verschwanden von den Straßen der Vororte, die Gefahr einer gewaltsamen Konfrontation schien zu schwinden. Zugleich zogen Offiziere in alle Redaktionen und Ämter ein. Die Staats- und Parteibeamten und die veröffentlichte Meinung wurden in aller Stille wieder an die Kandare genommen.

Auch daß die Führung tagelang hinter verschlossenen Türen verschwand, war ja kein Zeichen dafür, daß die Linie der Öffnung und des Dialogs sich durchsetzte. Das für einen langen Moment verwirrte Netz der Machtstrukturen und -beziehungen wurde in aller Ruhe, ohne lärmende Störungen und unter den disziplinierenden Augen der Armee wieder geordnet und geflickt, bis Ministerpräsident Li Peng gestern lächelnd und wie nebenbei erklären konnte, der Staat sei stabil.

Das Problem für die alten Herren hinter den roten Mauern der verbotenen Stadt war wahrscheinlich nicht so sehr das Volk auf der Straße. Mit dem hofft man mit propagandistischer Denunziation, durch Aushungern (im wörtlichen Sinne), mit administrativen Schikanen und selektiver Gewalt ohne Eile fertig zu werden. Ihr Problem ist es, ihren Apparat der gesellschaftlichen Macht und Kontrolle funktionsfähig zu halten, um die Politik der Deng -Xiaopingschen Reformen weiterzuführen.

Diese Reformpolitik war nie als Demokratisierung des im Westen landläufigen Sinnes gemeint. Ihr übergeordnetes Ziel waren immer „Stabilität und Einheit“, die Festigung und Erhaltung der Partei- und Staatsmacht durch eine pragmatische, auf einigermaßen gefüllte Bäuche bedachte Politik. Das Fehlen von Demokratie - das scheinbar unverständliche Zurückbleiben der politischen Reform in China - störte so lange nur wenige, solange tatsächlich die Zahl der hungernden Bäuche allmählich abnahm. Die erneute Unzufriedenheit aus Anlaß von wirtschaftlichen Schwierigkeiten seit letztem Jahr zeigte dann aber, daß es längst nicht mehr nur um die Bauchfrage geht, daß die schlauen Technokraten mit der Wirtschaftsreform die Reform ihrer eigenen Herrschaft auf die Tagesordnung gesetzt haben.

Jetzt steht der Machtapparat, der sich selbst wieder in den Griff gekriegt hat, geschlossen und weit, weit weg vom Volk seiner großen Städte da. Auf die Dauer wird es für die alten Herren und ihre schneidigen Offiziere in Armee und Partei aber sehr kalt und einsam werden auf dem Gipfel der Macht.

Jochen Noth