Vierzig Jahre Pressefreiheit Wann wird sie was wert sein? Endlich wächst die Anspruchshaltung

ESSAY

Von Sibylle Bartscher und Richard Herding

Als es die Redefreiheit gab (und sie meistens auch was wert war)“ - mit diesem Titel erschien vor einiger Zeit die US -amerikanische Alternativzeitung 'Chicago Reader‘. Zu feiern gab es das Jubeljahr einer Einrichtung, eines Clubs sozusagen, aber offen für alle, in der sich während der 20er und 30er Jahre Chicagos Literaten, Querköpfe oder redebegabte Stammtischpolitiker trafen, wöchentlich, je nach Verbotslage mit oder ohne alkoholische Hilfe, und in einer Art „Speakers‘ Corner“ wie im Londoner Hyde Park ohne organisatorische Zutrittsschranken ihre Meinungen verbreiteten. Frauenemanzipation, Hitler, Sozialismus, Korruption in der Stadtverwaltung, Bierverbot: kein drängendes Problem blieb ausgeklammert, die Ideenschmiede sorgte für schöpferische Unruhe in der Stadt.

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Bild und Schrift frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ An diesem 40jährigen Grundgesetzartikel (dem einiges an problematischem „Kleingedruckten“ folgte) ist, als Versprechen wohlgemerkt, nichts auszusetzen außer dem Buchstaben „r“ in „jeder“, was jahrzehntelang durchging, bevor uns verdienstvollerweise Alice Schwarzer darauf gestoßen hat. Die Grundsätze fanden alle JubiläumsrednerInnen, auch die skeptischen, lobenswert und allenfalls ihre Verwirklichung gefährdet: Sei es durch Pressekonzentration, Schnüffeleien des Verfassungsschutzes, Scheren in den Köpfen, Computer in Fernmeldeämtern oder Werbeetats bei Radio Luxemburg.

Alles richtig, aber etwas Entscheidendes fehlt uns dabei, und darum der Hinweis auf das Jubiläum des Rednertreffs von Chicago: In einem lautlosen, aber machtvollen Prozeß von „Vermündigung“ kommt dieses Grundrecht allmählich zu sich selbst, zu dem Wert, den es haben könnte. Denn obwohl das Grundgesetz in seiner Formulierung klar vom Individuum ausgeht, wurde Pressefreiheit anfangs nur als Schutzrecht von Unternehmen und Anstalten gegen den Staat verstanden. Zaghaft kamen Interpretationsversuche hinzu, auch eine Grenzziehung gegen fusionsgierige Verlagskapitalisten herauszulesen. „Enteignet Springer“ war insofern 1968 eine Parole für die Pressefreiheit. Vor allem die gewerkschaftlich organisierten JournalistInnen verstanden die Pressefreiheit später auch als Schutz gegen diktatorische Verlage und Chefredaktionen, gegen die Redaktionsstatute errichtet wurden. Heute aber wird dieser Artikel 5 des Grundgesetzes immer mehr auch von unorganisierten, gesellschaftlich benachteiligten Gruppen, Bewegungen und Einzelnen für sich in Anspruch genommen.

Die Kämpfe für die erste Pressefreiheit gegen den Staat, für die zweite gegen das Kapital, für die dritte gegen die Abschaffung professioneller Autonomie waren für die vierte Pressefreiheit, die des Zugangs ohne organisatorische oder professionelle Einschränkung, keineswegs unwichtig. Hätte nicht der Sozialdemokrat Sänger die Deutsche Presse-Agentur vor Konrad Adenauers Griff bewahrt, hätten die StudentInnen 1968 nicht Springer blockiert, hätten die 'stern' -RedakteurInnen nicht ihren hitlertagebuchseligen Bossen Tritte gegeben, stünden wir heute entmutigt da.

Dennoch: Bei einer auf Unternehmer, Organisationen und Redaktionen ausdrücklich beschränkten Pressefreiheit blieben „die Leute“ außen vor. Erst als Teilnahmerecht an einer partizipatorischen Demokratie kommt Pressefreiheit zu ihrem entfalteten Wert. Der Frankfurter Juraprofessor Erhard Denninger hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, freiheitliche Kommunkation habe seit 1968 einen „allgemeinen Grundrechtsstatus des Bürgers“ erlangt, leider ohne den Wandel historisch zu entfalten. Der zentrale Unterschied: Seit 1968 stimmt Paul Sethes Satz, Pressefreiheit sei die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten, nicht mehr ungebrochen. Bürgerbeteiligung bei der 'Tagesschau‘ forderten die Grünen in ihrem „Wildsachsener Startschuß“ von 1983, meinten damit wohl vorwiegend die Anti-Atomkraft-Bürgerinitiativen - erreicht wurden immerhin einige Ökologie-Sendeplätze und vor allem ein universales Schuldbewußtsein, wenn wieder mal neue ökologische Katastrophen von medialen Holzköpfen heruntergespielt werden. „Das Fernsehen gehört dem Volk, nur sagt ihm das keiner“, polemisierte Christan Longolius schon in den frühen 70er Jahren. Damals nahm eine Reihe von MedienkritikerInnen das drohende Kabelfernsehen und Willy Brandts Parole „Mehr Demokratie wagen“ als Ermunterung, Offene Kanäle einzurichten, in denen jedermensch eigenes Fernsehen machten könnte. Das Selbermachen als Königsweg partizipatorischer Demokratie anzusehen, ist gewiß ein naturalistisches Mißverständnis insofern, als nicht alle BürgerInnen Freizeitjournalismus betreiben müssen.

Dennoch bedarf es auch der Möglichkeit, real eigene Medien selbst zu machen. Sie begann in den 70er Jahren mit der Schweizer 'Leser-Zeitung‘ und dem deutschen 'Informations -Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten‘, heute als Freies Redaktionsbüro 'ID-Projekt Alltag‘, mündete in die Freien Radios; sie hatte vielleicht den ersten über die alternative Subkultur deutlich hinausreichenden Erfolg bei der Unterstützung der Rheinhausener Stahlarbeiter durch ihren 'Offenen Kanal‘ 1987.

Nicht weniger wichtig als „selbstgemachte“ Medien für die Verwirklichung von Pressefreiheit ist die Freiheit des „Marktzutritts“ für neue Zeitungen und Sender, vor allem aber auch ein Generalangriff auf die fortbestehende Arroganz der meisten Redaktionen gegen „störende“ LeserInnen, HörerInnen, ZuschauerInnen, für die der Querulantenpapierkorb stets bereitsteht.

Die neue Qualität der Anspruchshaltung in bezug auf den Pressefreiheitsartikel des Grundgesetzes erscheint um so atemberaubender, je mehr wir uns erinnern, wie unumstößlich er vor 1968 nur als organisatorisches Schutzrecht angesehen wurde. Noch Jürgen Habermas‘ Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit, das 1962 den avanciertesten Stand der medientheoretischen Ideen um Horkheimer und Adorno mit der linken Verfassungstheorie um Abendroth zusammenbrachte, stellte lakonisch fest: „Im Prozeß der massendemokratischen Meinungs- und Willensbildung (behält) die Volksmeinung unabhängig von den Organisationen, von denen sie mobilisiert und integriert wird, kaum eine politisch relevante Funktion mehr.“ Glücklicherweise hat die Medienlinke der Jahre nach 1968, wir lassen die fürchterlichen ML-Parteiblätter einmal beiseite, Habermas‘ resignierte Absage an die Spontaneität nicht aufgenommen.

Kurz zurück zu dem einen Punkt, wo schon das Versprechen zu kurz griff: zum maskulinen „r“ in „Jeder hat das Recht...“. Verzeih uns die Duden-Redaktion, daß wir's überhaupt ernst nehmen - aber der Einstieg der Frauen in die Öffentlichkeit repräsentiert den neuen, unorganisierten, chaotischen Anspruch am gewaltigsten, und das fängt beim großen I wie in GöttInnen und SteuerinspektorInnen an.

Medienfreiheit im Grundgesetz: trotz des ökonomischen Großangriffs durch die Einführung des Privatfunks, trotz der Neuauflage staatlicher Repression mit den Antiterrorgesetzen ist die neue Anspruchshaltung unübersehbar: Pressefreiheit, die frei ist für das Wörtchen „Ich“.

(S.Bartscher und R.Herding arbeiten beim Informationsdienst: Zentrum für alternative Medien, Frankfurt)