Ist der chinesische Frühling zu Ende?

■ Die StudentInnen sind erschöpft / Depression und Enttäuschung in Peking, nachdem sich die konservative Fraktion um Deng Xiaoping in Chinas Führung durchgesetzt haben

„Wir feiern den sechsten Tag des Kriegsrechts!“ So stand es auf einem „Lastwagen des Volkes“, der gestern bei der fast schon üblich gewordenen Nachmittagsdemonstration über die Changan-Straße fuhr. Die Feier scheint jedoch zu Ende zu sein.

Zwar haben sich die etwa 20.000 StudentInnen auf dem Tiananmen-Platz am Freitag morgen entschieden, ihren Sitzstreik fortzusetzen; aber sie sind müde und leiden unter der starken Hitze (33 Grad im Schatten) dieses Sommertags. Zwar kleben an Bäumen und Laternenpfählen nach wie vor Flugblätter, die eifrig gelesen werden, und auf Verkehrszeichen und großen Werbeplakaten prangen Parolen der „patriotischen Demokratiebewegung“, so der bei den StudentInnen gebräuchliche Name.

Aber gestern abend waren im Nordwesten der Stadt keine Straßensperren mehr zu sehen. Fabrikdirektoren drohten ihren Mitarbeitern schon am Dienstag, sie würden mit einer Ermahnung bestraft, wenn sie an der Demonstration teilnähmen. Die Mobilisierung hat stark nachgelassen, ja, ist fast schon zu Ende. Die Bewegung hat sich erschöpft.

Auf dem Tiananmen-Platz haben die Pekinger Verkehrsbetriebe die meisten städtischen Busse schon abgezogen, Getränkeverkäufer und Garküchen machen gute Geschäfte, und so mancher Tourist läßt sich vor dem Hintergrund der Zeltstadt der Studenten mit Victory-Zeichen posend fotografieren. Am Rande des Platzes stinkt es penetrant nach Urin. Die Not-Toiletten reichen bei weitem nicht aus. Nach wie vor kontrollieren die StudentInnen an den wenigen Zugangsmöglichkeiten zum Platz des Himmlischen Friedens die Studenten- und Arbeitsausweise derer, die den Platz betreten wollen. Damit versuchen sie zu verhindern, daß sich Militärs in Zivilkleidung einschleichen. Die Atmosphäre ist gedämpft. Was wissen die StudentInnen hier von den Vorgängen gleich nebenan im Regierungsgelände Zhongnanhai, an dessen Südtor nach wie vor einige Gruppen campieren?

Die gestrige Ausgabe der 'South China Morning Post‘, die in chinesischen Angelegenheiten bestens informierte Hongkonger Tageszeitung, meldet, der innerparteiliche Machtkampf sei längst entschieden - zugunsten der konservativen Fraktion um Deng Xiaoping, Li Peng, Yang Shangkun, uneingeschränkt unterstützt vom Militär. Die Zeitung meint, in Zukunft werde das Militär eine größere Rolle im politischen Leben Chinas spielen, und es werde eine Rückkehr in Richtung „orthodoxem Marxismus-Leninismus“ geben. Unter Dengs Leitung habe sich eine „Nationale Führungsgruppe zur Verhinderung von Aufruhr“ gegründet, deren Aufgabe es sei, „die Herausforderung des Regimes durch Studenten, Intellektuelle und Arbeiter“ abzuwehren. Wörtlich heißt es: „Wie aus militärischen Kreisen verlautbart, beschloß die Nationale Führungsgruppe zur Verhinderung von Aufruhr Anfang der Woche, vom Vormarsch der Truppen, die jetzt am Stadtrand von Peking lagern, ins Stadtzentrum vorläufig abzusehen. Analytiker erwarten jedoch, daß das Nationale Führungsbüro die 'militärische Besetzung‘ Pekings befehlen wird, wenn die Wachsamkeit der Studenten und Einwohner nachgelassen hat.“ Und daß Zhao Ziyang noch nicht offiziell abgesetzt sei, sei nur auf die „Angst vor einer massiven Reaktion des Volkes“ zurückzuführen.

An den Eingangstoren der Renming-Universität (Volksuniversität) und der Peking-Universität hängen noch die Parolen. In der Mensa der Hochschule herrscht eine niedergeschlagene, depressive Stimmung. Der Stand der Dinge hat sich herumgesprochen. Es heißt, Fang Lizhi, der bekannte Dissident, sei verhaftet oder stehe unter Hausarrest. Gerüchte, Gerüchte. Man spricht wieder leise, hinter vorgehaltener Hand.

Offenheit, Freundlichkeit und Mut sind verschwunden. „Eine solche positive, freundliche, hoffnungsfrohe Stimmung habe ich noch nie erlebt!“ Immer wieder war diese Meinung in den letzten Tagen zu hören - auch von älteren Chinesen. In der englischsprachigen 'China Daily‘ wird berichtet, daß die als notorisch unhöflich geltenden Pekinger noch nie so freundlich miteinander umgegangen seien. Eine Stadt war euphorisch, schöpfte Hoffnung: „Selten waren sich die Leute so einig wie jetzt!“ Ist das alles zu Ende? Wird die einhellige Meinung der Bevölkerung ignoriert? Wird die Dynamik, wird der Traum der gesamten jungen Generation Chinas mit Füßen getreten?

Einem Studenten erzähle ich, was ich gerade in der Hongkonger Zeitung gelesen habe. „Schade“, sagt er, leise, lächelnd, mit Tränen in den Augen. Wieviele Tränen, wieviel Verzweiflung wird es geben, wenn der Pekinger Frühling zu Ende ist?