Konzentrationslager - „fand ich langweilig“

■ Eine Schülergruppe vom SZ Lehmhorster Straße (Blumenthal) auf schultypenübergreifender Suche nach nationalsozialistischen Spuren in Bremen-Nord

Die Szene war auf den ersten Bick von einer normalen Schulstunde nicht zu unterscheiden. Die einen waren apathisch, die anderen geschwätzig und über allem lag die sonore Stimme des Lehrers. Die Beklommenheit, die sich einstellen könnte nach den eindringlichen Schilderungen und Bildern über einen KZ-Alltag, war nicht zu spüren. Aber vermitteln Sprache (Jörg: „Wie da die verbrannten Leichen rumlagen, das fand ich gar nicht witzig“) oder abgefragte Auskünfte über Empfindungen (Rieke: „Ins KZ würde ich, glaube ich, nicht mehr gehen. Das fand ich langweilig, daß man da nur was von außen sehen konnte.“) überhaupt ein Bild von dem, was in den Köpfen vor sich geht ?

Zehn Jungen und achtzehn Mädchen aus der Hauptschule, der Realschule und dem Gymnasium hockten eine ganze Woche zusammen, um ein wenig mehr Licht in ihr Wissen um die Jahre

des Faschismus in Deutschland zu bringen. Der Nationalsozialismus, so befand die Mehrheit zu Beginn des Projektes, „werde in der Schule zu wenig behandelt“. So schrieben, redeten und lasen sie sich ein, schauten Filme und fuhren vor Ort. Zunächst nach Hamburg, ins KZ Neuengamme und die Schule am Bullenhuser Damm. Und zum Abschluß der Woche in die nächste Umgebung, um an bekannten Orten die unbekannte Geschichte aufzuspüren.

„Die Soldaten vergewaltigten selbst Judenfrauen.“ (Schüler

F.)

Die Lagerstraße in Farge passiert nur noch einige wenige Häuser, kleine Ziegelsteinbauten mit Vorgärtchen, bis sie ganz im Sande verläuft. Die alte Frau, die wir beim Vorbeiradeln für einen Moment vom Unkrautjäten abhalten, hat die Zeiten schon erlebt, die der Straße ihren Namen gaben.

Damals marschierten Tag für Tag hunderte von KZ-Häftlingen an ihrem Häuschen vorbei, heruntergekommen, ausgemergelt, entwürdigt. Die Öl-Bunker in der Schwaneweder Heide, Außenstelle des KZ Neuengamme, waren von 1943 bis 45 grausames „Zuhause“ für Tausende von Gefangenen des NS -Regimes. Die Lagerstraße war der Weg zur „Arbeitsstelle“, dem U-Boot-Bunker „Valentin“ am Farger Weser-Ufer.

„Valentin“ ist die sinnfälligste Erinnerung an jene Zeit, ein gigantischer Koloß aus Zement und Eisen, über dreihundert Meter lang, mit einem durchgehenden Betondach von sieben Metern Durchmesser, „bombensicher“. In seinem dem Wasser zugewandten Teil ist er heute gespenstisches Niemandsland, Zufluchtsort für Füchse und Möwen. Den anderen Teil hat die Bundeswehr in Beschlag genommen, als Marinematerialdepot. Zuvor waren alle Versuche gescheitert, den Giganten zu schleifen. Es hätte einer solchen Menge Sprengstoff bedurft, daß die umliegenden Wohnquartiere in Mitleidenschaft gezogen worden wären. „Vernichtung durch Arbeit“ wurde auch bei dieser - von den Zeitgenossen als „technisches Wunderwerk“ gepriesenen - Baustelle praktiziert. Heute allerdings vermag keiner mehr zu sagen, ob in diesen ungeheuren Mengen an Beton nicht auch Menschenleiber gegossen sind.

„Hitler ließ nicht nur Verbrecher umbringen, sondern auch

Unschuldige“ (Schüler S.)

Nur wer weiß, der sieht. Diese Erfahrung mußten die SchülerInnen häufiger machen. Ohne eine intensive Vorbereitung wären sie am Ende der Lagerstraße nicht am Feldrain weitergestolpert, wären nicht über einen Stacheldrahtzaun ins Truppenübungsgelände geklettert, hätten nicht, hügelab und hügelauf, schließlich die Überreste von Fundament und Grenzpfählen gefunden, wären nicht auf eine eingezäunte Bunkerruine - das ehemalige KZ - getroffen. Die nationalsozialistische Ver

gangenheit ist kein aufgeschla genes Buch, mühsamst muß man sie sich zusammenklauben. Mosaikstein für Mosaikstein zusammenfügen, will man ein Bild von den lokalen Ereignissen und Personen gewinnen. Manche SchülerInnen stachelt das zu detektivischen Umtrieben an. Sie streuen ihr frisch erworbenes Wissen allmorgendlich in die Runde („Das Freizi in Farge war mal ein HJ-Heim.“). Angeregt auch durch die vielen kleinen Alltagsgeschichten, die Lehrer Manfred Haneberg nach vielen eigenen Recherchen erzählen kann. So verbindet sich die Geschichte der polnischen Zwangsarbeiter, die zur Arbeit in der Baumwollkämmerei abkommandiert waren, mit den Erzählungen von Opa Alfred. Und Bahrs Plate, früher Appell-Platz der SA und russisches Zwangsarbeiterlager - ist nicht mehr nur der Ort früherer Versteckspiele. Nur wer sehen lernt, lernt Fremdes zu akzeptieren. Darauf setzt das Projekt. Und Selala, die junge Türkin, die mit Begeisterung und Angst dabei ist: „Die Türken sind ja jetzt die neuen...“

„Wenn man z.B. einen Mann, der eine Frau vergewaltigt hat,

umbringt, ist das doch zu barmherzig. Man sollte ihn auch

ein wenig quälen.“ (Schülerin P.)

Lehrer Manfred Haneberg ist mit so viel Vorbereitung und Emphatie dabei, daß er sich in seinem Mitteilungsbedürfnis oft selbst bremsen muß. Eine Herzensangelegenheit ist ihm dieses Thema. Ein Versuch, nicht-verschuldete Schuld abzutragen durch Aufklärung, in dem er andere resistent macht, sie impft. Ein Balanceakt zwischen leidenschaftlicher Aufklärung und moralischem Rigorismus.

„Das tut man nicht!“ - Dieses Stereotyp hatte Haneberg zur Kritik freigegeben, aufgefordert, das individuelle Selbstbewußtsein nicht über die stärkende Gemeinschaft, über das einende Symbol, den gemeinsamen Gruß oder die kollektive Idee zu stützen. „Das tut man nicht!“ - wurde aber

auch ins Feld geführt, als Haneberg und sein Kollege H. das unpassende Verhalten einiger SchülerInnen beim Besuch des KZ Neuengamme tadelten. Darf man lachen in einer Umgebung, in der Tausenden Leiden zugefügt wurden. Ist das pietätlos, ist das unanständig oder eine vielleicht notwendige Art für Jugendliche, die unfaßbaren Grausamkeiten, die Dokumente und Beschreibungen zu verarbeiten?

Lehrer F., in der ganzen Woche mit Video-Dokumentation beschäftigt, hatte sein besonderes Erlebnis am Bullenhuser Damm. SchülerInnen pflanzten zum Gedenken an die dort ermordeten Kinder einen Rosenstock. F. filmt sie dabei. Ein paar Jungen machen sich einen Spaß daraus, ihm immer wieder durch die Kamera zu laufen, lauthals ins Richtmikrophon zu rufen. Für F. ist der Filmschnitt damit unbrauchbar geworden, die Dramaturgie im Eimer. Als Pierre, noch übermü

tig, ihn zur Seite schubst („Ey, laß mich auch mal durchgucken“), rempelt er vehement zurück - ganz und gar unfreundlich. Pierre kontert - mit seinen Mitteln, jemanden zu verletzen : „Jetzt stehst Du auch auf meiner Abschußliste. Du kriegst auch noch den Fangschuß.“ Sagt einer, während seine MitschülerInnen gerade der ermordeten Kinder gedenken. Sagt einer, der ganz freiwillig diesem Projekt beiwohnt. Am nächsten Tag bringt F. den Vorfall noch einmal zur Sprache. Eine kurze Gardinenpredigt wird das : er steht auf, er senkt die Stimme, er nimmt ganz bedächtig die Brille ab. „Blöder Arsch“, das hätte er noch weggesteckt, aber in einer solchen Situation jemandem den „Fangschuß“ anzukündigen : „das macht man nicht!“ Pierre ist nicht mehr dabei. „Pierre ist immer so, „sagen die Anderen, lakonisch. „Den ändern Sie nicht, der ist eben schlagfertig.“

Andreas Hoetzel