Cocteau kommt bissl post festum

■ Zum 100.Geburtstag des Pariser Tausendsassas eine Ausstellung in Baden-Baden, Tagebücher und vieles mehr

Jürgen Berger

Es ist, als sei ein ständiges Vibrieren in seiner Seele, er ist von einer äußersten, gleichsam zugespitzten Vitalität. Das ist Jean Cocteau: ein nicht sehr großer Herr, von überraschender, nervös zuckender Magerkeit, mit einem schmalen, grotesken, zugleich zarten und mephistophelischen Gesicht, in dem die Brauen schwarz, schräg und spaßhaft über großen melancholischen Augen stehen.“ So beschreibt ihn Klaus Mann. Er ist fasziniert von ihm, wie er während eines Atelierfestes eine Abendgesellschaft unterhält, geistreich, drei Stunden ohne Unterbrechung. Cocteau spricht über alles, natürlich auch über das Theater: Es müsse Spiel sein, sagt er, Zauberei, Hokuspokus. Er selbst versteckt sich hinter Masken, ist eitel, und als Künstler probiert er alles einmal aus, was es an Genres und Kunstformen gibt: „Ich bewege mich durch Stürze voran“, schreibt er in einem Brief. Und stehe immer wieder als ein anderer auf, wäre hinzuzufügen. Nur in einem ist er unveränderlich: Er inszeniert sein Leben, immer, selbst wenn er wegen seiner Opiumsucht eine Entziehungskur macht.

Das Gesicht, das Klaus Mann beschreibt, hat Jean Cocteau häufig gezeichnet - das eines Fauns. So sieht er sich gern als jenen weinseligen Satyr, der Frauen und Knaben nachstellt, im Gefolge des Fruchtbarkeitsgottes Dionysos. Immer wieder hat er ihn gezeichnet, den Verführerischen Faun mit weißen Hörnern, Blauen Satyr im Profil, Ruf des schwarzen Fauns... Ob es nun eine Bleistiftzeichnung ist oder eine Keramik: der Faun ist allgegenwärtig, auch in der ersten umfassenden Cocteau-Ausstellung, die derzeit anläßlich seines 100.Geburtstages in Baden-Baden zu sehen ist. Es ist kein Zufall, daß eine deutsche Kunsthalle zum ersten Mal eine Gesamtwürdigung seines künstlerischen Werkes zusammengetragen hat. Denn zu Deutschland hatte der Pariser Tausendsassa Zeit seines Lebens eine Affinität, und die Deutschen lieben ihn weitaus mehr als die eigenen Landsleute.

1952 bereist er zum ersten Mal das Nachbarland, weil mehrere seiner Theaterstücke aufgeführt werden - Gustav Gründgens inszeniert in Düsseldorf den Bacchus. Wie begeistert Cocteau von Deutschland ist, kann man auf einer Brechtüte der Air France nachlesen. Ihr vertraut Cocteau auf dem Rückflug nach Paris seine Eindrücke an: „Man kann sich nicht vorstellen, daß Menschen sich so viel Mühe geben, einen anderen Menschen zu empfangen. In Deutschland nimmt man noch lange Wege auf sich, wenn es darum geht, ein Bild anzuschauen oder ein Quartett zu hören.“ Hinter diesem Lob steckt allerdings ein gehöriger Schuß Selbstverliebtheit. Denn Cocteau meint eigentlich einen „berühmten Kritiker“ der 'Frankfurter Zeitung‘. Der fuhr zur Aufführung eines seiner Stücke nach Hamburg „acht Stunden lang im Auto (...), um bei der Aufführung dabeizusein. Ein Beispiel für die Ernsthaftigkeit des intellektuellen Deutschlands.“ Das muß ihm sehr geschmeichelt haben, denn er erwähnt den Kritiker noch einmal, und auch, daß Rainer Maria Rilke, kurz bevor er starb, eine Übersetzung seines Theaterstücks Orphee vorbereitete.

Mit den Deutschen verbindet ihn viel. Wenn er im Norddeutschen Rundfunk allerdings gefragt wird, ob er wisse, daß Orphee den neuesten Erkenntnissen deutscher Philosophie entspreche, meint er diplomatisch: „Das habe ich nicht gewußt. Ein Dichter schläft im Stehen und hat, ohne es zu wissen, Kontakt mit dem, was in der Welt vorgeht.“

Der Kontakt ist zeitweise gestört. Wie gestört, das zeigt sich vor und während des Zweiten Weltkriegs. Er kennt zwar alle Berühmtheiten von Picasso bis Satie, von Diaghilew bis Strawinsky. Er arbeitet mit allen zusammen und macht Talente wie Jean Marais berühmt. Aber es ist auch die Zeit, in der er sich durchsetzen muß. Dadaist ist er nicht. Den italienischen Futuristen würde er sich nie zurechnen, obwohl in einigen seiner Stücke die neuesten technischen Errungenschaften im wahrsten Sinn des Wortes eine wichtige Rolle spielen. Ein Surrealist - das will er schon gar nicht sein. Denn Surrealisten sind seiner Meinung nach nichts anderes als der „Rokoko-Ausklang der symbolistischen Mode, Affen Arthur Rimbauds, die sich wichtig machen“. Er geht beileibe nicht zimperlich mit ihnen um, aber auch die Angesprochenen schenken ihm nichts: „Ein stinkendes Tier“ sei er, sagt der Lyriker Paul Eluard.

Cocteau ist nicht zuletzt deswegen erfolgreich und umstritten, weil es bei ihm nichts gibt, auf das man sich verlassen kann. Kurz bevor Klaus Mann ihn kennenlernt, konvertiert er zum Katholizismus. Für die Pariser ist das ein Skandal, für den Haupttheoretiker des französischen Surrealismus, Andre Breton, nur noch „ekelhaft“. Warum er konvertiert? Ob die Ursache seine Freundschaft mit Jacques Maritain ist, einem Pariser Religionsphilosophen, der Ende der vierziger Jahre gar französischer Botschafter beim Heiligen Stuhl wird? Sicher ist nur, daß es ihm entschiedene Ablehnung einbringt. Die Grenzen sind jetzt gezogen. Für viele der in der Kommunistischen Partei organisierten Surrealisten wird er auch zum politischen Feind.

Weimarer Republik. Es brodelt, vor allem in Berlin und Paris. Cocteau liebt das, aber nicht, weil sich politisch auch durchaus andere Möglichkeiten als der Faschismus abzeichnen. Es ist etwas in Bewegung, und das ist für ihn ein Wert an sich. Mit politischen Bewegungen hat er nichts am Hut, denn: „Die Reinheit einer Revolution kann vierzehn Tage anhalten. Der Dichter, Revolutionär der Seele, beschränkt sich deshalb auf umwälzende Richtungswechsel seines Geistes. Alle vierzehn Tage ändere ich das Programm. Für mich ist das Opium die Revolte. Die Entziehung einer Revolte.“ Er schreibt dies Ende der zwanziger Jahre während einer Entziehungskur. Die Luxusklinik von Saint-Cloud verläßt er mit zwei Manuskripten in der Tasche - dem Roman Kinder der Nacht und Opium, dem Tagebuch einer Entziehungskur.

Alfred Kerr, einer der einflußreichsten deutschen Kritiker jener Zeit, geht zuerst noch wohlwollend mit ihm um. Cocteaus Theaterstücke, so schreibt er im 'Berliner Tagesspiegel‘, sind ein „Gemisch von Ulk, Schrecken, Skurrilität, Absonderlichkeit. Ein bewußtes Aufscheuchen des Zuschauers aus der einheitlichen Stimmung: durch dieses Gemisch. Ich habe die Abstammung solcher Mittel in der deutschen Romantikerwelt von den Späßen Jean Pauls und des Laurence Sterne vormals nachgewiesen. Darum keine Feindschaft. Cocteau kommt bissl post festum; doch in ganz hübscher Art.“

Kerr bleibt nicht lange so moderat. Zwei Jahre später gibt es kein Pardon mehr. 1928 ist in Berlin die deutsche Erstaufführung von Strawinskys Oedipus Rex, zu dem Cocteau das Libretto geschrieben hat. Für Kerr ist die Oper „snobistischer Musikplunder“, und Strawinsky „läßt sich von Cocteau, einem schmierigen französischen Literaten, der Dadaismus mit Katholizismus verbindet, eine Bearbeitung des griechischen Dramas von Sophokles anfertigen“. Vielleicht hat Kerr inzwischen von Cocteaus katholischer Eskapade Wind bekommen. Vielleicht spürt er aber auch, daß ein Künstler wie Cocteau nie offen gegen den heraufziehenden Faschismus Front machen würde.

Ob Kerr noch etwas eingefallen wäre, wenn er 1942 im Londoner Exil von Cocteaus politischer Naivität gehört hätte? Im besetzten Paris ist eine Ausstellungseröffnung des Hitler-Intimus Arno Breker, dem Bildhauer, der den arischen Menschen modellierte, die Rassenideologie der Nazis illustrierte. Cocteau weilt unter den nationalsozialistischen Militärs und Würdenträgern, und er verfaßt in der Zeitung 'Comoedia‘ eine hymnische Würdigung: Sein Gruß an den Führer-Künstler kommt „aus dem hohen Heimatland der Dichter, aus dem Heimatland, wo es keine Grenzen gibt“.

Charlie Chaplin, der große Hundertjährige dieses Jahres und wichtigste filmische Bezugsperson Cocteaus, zeigt etwa zur gleichen Zeit, wie man sich nicht ins „Heimatland der Dichter“ aus dem Staube macht, sondern mit seiner Kunst Farbe bekennt. Er dreht den Großen Diktator. Im Film ist auf dem Schreibtisch des Führers häufig eine Büste zu sehen. Sie könnte von Arno Breker sein und hat - ein Effekt, den Chaplin und sein Ausstatter wahrscheinlich nicht beabsichtigten - Ähnlichkeit mit der Büste, die Breker von Cocteau anfertigte.

Kurz vor Kriegsende wird ein Freund Cocteaus, der Dichter Max Jacob, von der Gestapo in ein Konzentrationslager verschleppt - nach zwei Wochen ist er tot. Angesichts der faschistischen Realität verläßt Cocteau die Vorstellungskraft, auf die er sich in seiner künstlerischen Produktion ansonsten verlassen kann. In einer unveröffentlichten Notiz schreibt er: „Was ist es? War er krank? Picasso und Pierre Reverdy angerufen. Prade wird den Leichnam suchen lassen. Max war ein Engel, ein Kind wie Saint-Pol-Roux. Unermeßlicher Verlust.“ Noch nach dem Krieg, während seiner Deutschlandreise, gibt er sich als naives Kind. Er besucht die Familie Breker und schreibt in sein Tagebuch: „In Düsseldorf werden sie gemieden. Ich erzähle, wie sie Paris gerettet und uns Katastrophen erspart haben. Ihr altes Haus ist schön und sehr behaglich. Hinterher spreche ich zum Publikum des Filmclubs.“

Er selbst ist in den Club der großen Filmregisseure erst sehr spät eingetreten. Mit 41 Jahren dreht er seinen ersten Film, Das Blut eines Dichters. Mit ihm aber, so schreibt Franz-Josef Albersmeier im Katalog der Baden-Badener Ausstellung, gelingt ihm gleich ein großer Wurf, „sein bedeutendster Beitrag zur Geschichte des Avantgardekinos, der jedoch kurioserweise bis heute sein am meisten verkanntes Werk geblieben ist“. Er zeigt einen Dichter auf einer phantastischen Irrfahrt durch verschiedene Bewußtseinswelten, eine Geschichte ist schwer auszumachen. Was besticht: Cocteau spielt virtuos mit den Gesetzen der Schwerkraft, läßt seinen Helden an der Wand klebend gehen und durch Schlüssellöcher Irreales sehen. Bei vielen Einstellungen ist kaum zu erklären, wie Cocteau es gemacht hat. Er selbst sagt in einem Interview: es sei nur möglich gewesen, weil er von der Filmtechnik keine Ahnung hatte, und er vieles so machte, wie es eigentlich nicht gemacht wird.

Ist er ein vielseitiger Dilettant, oder ein dilettantisches Genie? Mit seinen Filmen macht er Geschichte, und auch von seiner Literatur ragt vieles aus dem Sammelsurium seiner Kunstproduktionen heraus. Er sei „ein echter Dichter“, sagt schon 1927 Ernst Robert Curtius, der Nestor deutscher Romanistik. Er merkt noch an, daß sich Cocteau zur Poesie wie ein Liebender verhalte, aber es kommen ihm dann angesichts der folgenden mißglückten lautmalerischen Dada -Zeilen doch Zweifel: „e e ie io ie/ui ui io ie/ aeoe iaoe/ auia ou aoe/ io io ioiu.“

Cocteau will oft zuviel, und das gilt auch für sein bildkünstlerisches Werk. Wenn er zeichnet, entstehen schöne Skizzen, vor allem, wenn er die Konturen seiner Entwürfe mit Schrift umgibt. Aber wenn er sich an Ölgemälden versucht, verkennt er seine Grenzen. In Baden-Baden können das Bildnis einer Tragödin und Phädra und Önone bestaunt werden. Die beiden Bilder haben einen Fehler: sie könnten genausogut in einem Kaufhaus hängen, neben einer jener unvergleichlichen Zigeunerinnen, denen das Kleid über die Schulter gleitet. Mit seinen Wandteppichen hat es eine ähnliche Bewandtnis. Man sollte einfach über sie hinwegsehen - mit einer Ausnahme: Judith und Holofernes. Die große Tapisserie hängt zentral in der Kunsthalle und zeigt eine Judith in geometrischen Formen, sphinxartig, während der abgeschlagene Kopf des Holophernes in ihrer Hand alttestamentarisch heult und zähneknirscht. Das wichtigste aber sind die Wächter. Sie umlagern das Geschehen, lasziv hingegossen, Figuren wie aus Faßbinders Querelle.

Wenn er partout nicht mehr zeichnen will, wenn auch am Schneidetisch gerade Sendepause ist und der Einfall für den großen dramatischen Entwurf fehlt, dann schreibt Jean Cocteau autobiographische Bruchstücke, essayhafte Betrachtungen über Sprache, Träume, Tod, das Opium. In Die Schwierigkeit zu sein heißt es 1947: „Ich fürchte die Verweichlichung durch Gewohnheit. Ich will mich unabhängig von Techniken, von Anstelligkeit, ich will mich ungeschickt. Das heißt man einen Unberechenbaren, einen Abtrünnigen, einen Geistesakrobaten, einen Phantasten. Und zur Aufmunterung: einen Magier.“ Und Cocteau veröffentlicht wöchentlich im 'Figaro‘ Erinnerungsnotizen. Was in Baden -Baden auf einem Haufen Bilder in einer Vitrine zu sehen ist - Cocteau mit Chaplin, Picasso, der Callas, Edith Piaf, Romy Schneider, Jean Marais und und und - im 'Figaro‘ porträtiert er sie, erzählt Geschichten von ihnen wie die von Marcel Proust: „Er erwartete mich auf einer Bank im Finsteren. 'Marcel‘, rief ich, 'warum treten Sie nicht wenigstens ein, um bei mir zu warten?‘ - 'Lieber Jean‘, antwortete er, und wie immer vernuschelte er mit der Hand die Stimme, die eine Klage war, ein Kichern, 'lieber Jean, Napoleon ließ einen Mann töten, der im Gemach auf ihn wartete. Selbstverständlich würde ich nur im Larousse geblättert haben, aber es hätten ja Briefe herumliegen können ...'“

Es gibt ein Bild, auf dem Jean Cocteau und Charlie Chaplin zusammenstehen. Beide tragen als Schutz gegen die Sonne einen großen Sonnenschirm auf der Schulter. Wie Chaplin wäre Cocteau dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. Genau am 5.Juli. 1951 hat er begonnen, Tagebuch zu führen, der erste Band seiner Aufzeichnungen ist gerade erschienen: „Was meine vollkommene Gleichgültigkeit dem Tod gegenüber erklärt. Ich war tot, ehe ich geboren wurde. Ich werde tot sein nach meinem Leben. Sich vor dem Sterben zu fürchten, ist genauso sonderbar wie sich vor den räumlichen Begrenzungen zu fürchten.“ Zwölf Jahre nach diesem Eintrag stirbt Jean Cocteau - am 11.Oktober 1963.

Die Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden ist noch bis zum 30.Juli zu sehen. Der Katalog kostet 48 Mark, im Buchhandel 98 Mark. Der erste Band von Cocteaus Tagebuch Die vollendete Vergangenheit ist im Piper-Verlag erschienen. 507 Seiten. 88 Mark. Weiterhin lesenswert: Vier Bände der Werkausgabe im Fischer-Verlag Kritische Poesie I -IV. In ihnen sind alle essayistischen und autobiographischen Schriften Cocteaus versammelt, wie Die Schwierigkeit zu sein oder Opium.