Gastkommentar: Übergang

■ Der Kongreß der Volksdeputierten in Moskau

GASTKOMMENTAR

Bei den Wahlen zum Obersten Sowjet hat der radikale Reformflügel eine taktische Niederlage erlitten. Gerade diejenigen, die die Gesellschaft mit den Basisbewegungen repräsentieren, wie Tatjana Saslawskaja, Sergej Stankjewitsch und Boris Jelzin wurden - noch - nicht in das neue sowjetische Berufsparlament gewählt. Im Rat der Volkdeputierten stehen sich jetzt wenigstens drei Richtungen gegenüber: die Interessenvertreter des Apparats, die zentristische Reformführung um Gorbatschow und die radikaleren Reformer, die der politischen Mobilisierung von unten Ausdruck verleihen. Es wäre für Gorbatschow eine naheliegende Taktik gewesen, mit den radikaleren Reformern ein Bündnis zu schließen und sie etwa durch die Ernennung Jelzins zum Vizepräsidenten zu integrieren. Das ist jetzt kaum mehr möglich.

Die Wahlen zum Obersten Sowjet erfolgten auf Grundlage von Kandidatenlisten, die zur einen Hälfte von Deputierten der Republik, zur anderen Hälfte von den regionalen Wahlkreisen vorher verabschiedet worden waren. Bei den Wahlen auf nationaler Grundlage gab es nur einen Kandidaten mehr, als Mandate zu vergeben waren. Die russische Delegation hatte für elf Sitze zwölf Kandidaten nominiert. Boris Jelzin fiel als einziger durch. Obwohl auch er eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhielt, kommt er damit als Vizepräsident wohl nicht mehr in Frage. Die gleiche Tendenz war bei den Wahlen auf Basis der regionalen Wahlkreise zu verzeichnen. Hier hatten fast nur die Moskauer mehr Kandidaten nominiert, als Plätze im Obersten Sowjet zu vergeben waren. Das Ergebnis war, daß gerade die bekannten Reformer durchfielen. Die Botschaft war klar: Die Vertreter der Interessen des Apparats revidierten die weit radikaleren direkten Wahlen vom März, in denen die sowjetische Bevölkerung ein klares Votum für ein konsequentes Vorantreiben der Perestroika abgegeben hatte.

Tatsächlich hat der ganze Wahlvorgang gezeigt, daß das neue Wahlsystem in hohem Maße verbesserungsbedürftig ist, wenn die verschiedenen politischen Strömungen in der Gesellschaft im Obersten Sowjet gemäß ihrer jeweiligen Stärke vertreten sein sollen. Das zweistufige Wahlsystem hat eine Filterfunktion, die den Wählerwillen ähnlich verfälscht wie das britische Mehrheitswahlrecht. Ebenso scheint es unsinnig, daß die politische Grundeinheit im Rat der Volksdeputierten die jeweilige Republik beziehungsweise der regionale Wahlkreis bildet. Bei aller Bedeutung, die der Nationalitätsfrage in der Sowjetunion zukommt, gibt es zwischen den Deputierten noch andere Gegensätze beziehungsweise Gemeinsamkeiten, die politisch von grundsätzlicherer Bedeutung sind. Der Vorschlag des Reformökonomen Gawril Popow, regional gemischte Deputiertengruppen zu bilden, zieht daraus die einzig logische Konsequenz: eine Strukturierung des Parlaments nach Fraktionen. Tatsächlich existieren diese Fraktionen ja längst, obwohl der Umstand, daß Gorbatschow in einem Lapsus linguae diesen bislang verpönten Begriff verwendete, als er von „der russischen Fraktion“ sprach, noch ein Raunen unter den Anwesenden auslöste. Gerade weil über 80 Prozent der Deputierten Mitglieder des KPdSU sind, sind die verschiedenen Abstimmungsergebnisse, in denen politisch radikalere Positionen zum Teil über ein Drittel der Stimmen erhielten, besonders bemerkenswert. Die Kommunistische Partei ist auch nach außen hin nicht mehr „politisch geschlossen“. Es wird Zeit, daraus politische Konsequenzen zu ziehen. Auf dem Weg zu einer Demokratisierung des sowjetischen Systems war der Kongreß bisher, trotz mancher Rückschläge, ein wichtiger Schritt - das auch deshalb, weil die nächsten Aufgaben deutlicher geworden sind.

Walter Süß wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZI für sozial

wissenschaftliche Forschung der FU Berli