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Moskaus Volksliebling Jelzin fiel durch

■ Jelzin und weitere Exponenten seines Reformflügels nicht in den Obersten Sowjet gewählt / Afanasjev wirft Gorbatschow Manipulation vor / 10.000 Moskauer demonstrierten gegen die „Revanche des Apparats“ / Die Wahl von Gorbatschows Stellvertreter wurde verschoben

Moskau (afp/ap/dpa/taz) - Zu Tumulten, Protest und scharfer Kritik an Gorbatschow kam es am Samstag im sowjetischen Volksdeputiertenkongreß. Boris Jelzin, populärster Exponent der radikalen Reformer, war bei der Wahl des Obersten Sowjets durchgefallen. Nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse stieg der Historiker Jurij Afanasjew, einer der prominentesten Reformern, ans Rednerpult und beschuldigte Parteichef Gorbatschow, die „aggressive und obrigkeitshörige“ Mehrheit im Kongreß „geschickt“ zu manipulieren. „Wir haben einen Obersten Sowjet vom Zuschnitt der Stalin- und Breschnew-Zeit gebildet“, konstatierte Afanasjew. Der Moskauer Wirtschaftsexperte Popow sprach von der „Rache des Apparats“ für die Niederlage der Partei bei den Wahlen zum Volksdeputiertenkongreß vom 26. März und forderte den Zusammenschluß der radikalen Reformer zu einer „unabhängigen Gruppe“ im Kongreß. Gorbatschow warnte darauf vor Fraktionsbildung und Schisma.

Die rund 2.250 Volksdeputierten hatten die beiden Kammern des Obersten Sowjets, den Nationalitäten- und den Unionssowjet mit je 271 Mitgliedern, zu wählen. Dieser soll von einer Akklamationsinstanz in ein zweimal jährlich über mehrere Monate tagendes Berufsparlament umgewandelt werden. Bei der Wahl des Nationalitätensowjets hatte die Russische Föderation mehr Kandidaten aufgestellt als ihr Sitze zustanden: zwölf Kandidaten für elf Mandate. Zwar sprach sich eine Mehrheit der Deputierten mit 1.185 gegen 964 Stimmen für Jelzin aus, doch erzielte der frühere Moskauer Parteichef damit das schlechteste Ergebnis unter den zwölf Kandidaten und fiel durch. Die übrigen elf, unter ihnen der russische Ministerpräsident Witali Worotnikow und ZK -Mitglied Valentin Falin, früher Botschafter in der Bundesrepublik, bestanden die Wahl. Erst vor zwei Monaten hatten 89 Prozent der Moskauer Jelzin in den Volksdeputiertenkongreß entsandt. Mit 5,5 Millionen Wählerstimmen war der radikale Reformer damals der eigentliche Wahlsieger. Seine Niederlage kommentierte Jelzin nun mit den Worten, er sei „nicht traurig, einem solchen Sowjet nicht anzugehören“. Wichtig sei die Entscheidung der Wähler und nicht die der Institutionen, seine Niederlage im Kongreß sei eine „Beleidigung der Wähler“. Im übrigen werde er „weiter bis zum Ende kämpfen“. Der Trend gegen die radikalen Reformer im Deputiertenkongreß setzte sich am Samstag bei der Wahl zum Unionssowjet fort. Hier fielen Gawril Popow, die Soziologin Tatjana Saslawskaja und der Moskauer Sergej Stankjewitsch durch. Zu den wenigen Reformern im künftigen Sowjet gehören der ehemalige Dissident Roy Medwedew und vor allem Vertreter aus den drei baltischen Republiken. Für die 271 Sitze bewarben sich 301 Kandidaten. Von den 30 „überzähligen Sitzen“ fielen 26 auf Moskau, das für die ihm zustehenden 29 Sitze 55 Kandidaten aufgestellt hatte. Vergeblich hatte Litauen darauf bestanden, daß die Mitglieder des Unionssowjets von den jeweiligen Deputierten der Republik und nicht vom Kongreß insgesamt gewählt werden sollten, und so stellten dann schließlich auch die baltischen Republiken, in denen der demokratische Prozeß am weitesten gediehen ist, nur einen Kandidaten pro Fortsetzung auf Seite 2

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Sitz auf, um zu verhindern, daß auch die Nichtbalten bestimmen, wer die baltische Bevölkerung im Sowjet vertritt.

Auf Antrag Gorbatschows annullierte der Kongreß am Samstag die Wahl der beiden Vertreter der mehrheitlich von Armeniern bewohnten autonomen Region Berg-Karabach in der Republik Aserbaidschan im Nationalitätensowjet. In der Debatte am Samstag hatten mehrere armenische Delegierte dagegen protestiert, daß die Kandidatenliste für die Republik Aserbaidschan allein von der aserbaidschanischen Mehrheit aufgestellt worden sei.

Nach Bekanntgabe der Wahlergeb

nisse mußte Parteichef Gorbatschow eine Schlappe einstecken. Noch am Samstag wollte er seinen Stellvertreter im alten Obersten Sowjet, Anatoli Lukjanow, für das Amt des Vizepräsidenten des neuen Obersten Sowjets wählen lassen. Doch auf Antrag eines armenischen Deputierten, der unter anhaltendem Beifall monierte, daß es für den Posten nur einen Kandidaten gebe, wurde die Wahl auf den heutigen Montag verschoben. In der Debatte, die vom Fernsehen direkt übertragen wurde, verlor Gorbatschow zeitweilig seine Fassung. Er verwies darauf, daß ihm das Recht zustehe, seinen Stellvertreter zu bestimmen. „Ich bin derjenige, der entscheidet“, rief der Parteichef offensichtlich entnervt. Der Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow regte an, daß

Lukjanow zunächst Rechenschaft über seine bisherige Arbeit ablegen sollte, bevor über seine Wahl entschieden wird. Er wolle wissen, welche Rolle Lukjanow beim Erlaß der neuen Demonstrationsverordnung gespielt habe. „Ich möchte gerne von ihm wissen, ob er diese Verordnung, die bei vielen große Besorgnis ausgelöst hat, absegnete“, sagte der Atomphysiker.

Am Freitag hatte die Soziologin Tatjana Saslawskaja den Deputierten mitgeteilt, Wähler hätten sie nach Mitternacht angerufen und berichtet, Sonderkommandos hätten auf dem Puschkinplatz eine Versammlung gesprengt. Sie sagte, die Volksmenge habe sich auf dem Platz eingefunden, um mit Deputierten des Kongresses zu sprechen. „Ich habe mit diesen Menschen gesprochen“, unterstützte sie Sacharow nach ei

nem Besuch auf dem Platz. „Es war eine sehr gute Unterhaltung über die Probleme des Kongresses. Das ist unsere Jugend, unsere Zukunft, aktiv interessiert am Kongreß. Sie haben uns gebeten, jeden Tag nach Ende der Debatten hinzugehen. Wir dürfen diese Menschen nicht mit Polizeieinheiten umzingeln.“ Doch ein Antrag Saslawskajas, die Moskauer Stadtverwaltung zur Aufhebung des Versammlungsverbots zu veranlassen, wurde im Kongreß niedergeschmettert. Doch wurde den Moskauern erlaubt, an einem Platz außerhalb des Stadtzentrums zu demonstrieren. Dort fanden sich dann am Samstag abend auch etwa 10.000 Personen zusammen, um gegen die Niederlage Jelzins und gegen die „Revanche des Parteiapparats“ zu protestieren.

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