Ein ganz normaler Tag in Gaza

Es stinkt zum Himmel im Zentrum von Gaza. Die Omar-Mukhtar -Straße ist frisch geteert worden. Aber nicht der Straßenbelag wurde erneuert, die Häuser zu beiden Seiten der Hauptgeschäftsstraße wurden mit Teerfarbe angestrichen. Die eisernen Läden, die Türen, die Schilder - Dutzende von Geschäften auf einer Strecke von rund 300 Metern präsentieren sich in einem matten Schwarz vom Gehsteig bis zum Dachsims. Was das Werk eines Aktionskünstlers sein könnte, war eine Aktion der israelischen Armee. Vor drei Wochen, während eines fünftägigen generellen Ausgehverbots, als alle Geschäfte geschlossen blieben, kam ein Spezialfahrzeug durchgefahren und, schwupp, war die Straße nicht mehr wiederzuerkennen. Es habe sich um ein Versehen gehandelt, gab die Armee später bekannt, es sei nur beabsichtigt gewesen, die politischen Parolen an den Wänden zu übermalen, nicht die ganze Straße (einschließlich weiter Teile der Gehsteige), ein Soldat muß die Order mißverstanden haben. Die Ladeninhaber waren anderer Meinung. „Das ist die israelische Zivilisation“, sagt einer, der gerade versucht, den schwarzen, öligen Belag abzuwaschen. „Das nächste Mal werden sie uns damit anstreichen“, sagt ein anderer. „Es war kein Versehen“, meint ein Dritter, „die wissen genau, was sie tun. Das Zeug brennt leicht, ein Streichholz oder eine Zigarette, und die ganze Straße steht in Flammen...“ - Der neue Anstrich taugt hervorragend als Hintergrund für Graffiti. Überall sind frische Parolen aufgemalt, weiß auf schwarz, dazu die geballte Faust. Repression macht erfinderisch.

Es gibt derzeit zwei Möglichkeiten, durch Gaza zu fahren. Man kann telefonisch Freunde bitten, einen abzuholen oder ein Taxi zu schicken. Man kann den Pressesprecher der israelischen Armee bitten, auf eine Infotour mitgenommen zu werden. Von der dritten Möglichkeit, mit eigenem Wagen, dazu noch mit einem israelischen Kennzeichen, durch den „Strip“ zu fahren, wird abgeraten. Also lasse ich meinen Wagen vor dem Übergang stehen. Vor drei Jahren, lange vor dem Ausbruch der Intifada, war ich zum letzten Mal hier, einfach so, zum Schauen und Einkaufen. Seitdem hat sich einiges geändert. Der „Eretz Checkpoint“, der Übergang von Israel zum Gaza -Streifen, sieht inzwischen wie eine richtige Grenze aus. Zwei Wachtürme, eine Baracke für die Soldaten, Einfädelspuren für die Autos und Betonsperren gegen Amokfahrer - wie eine Miniaturausgabe der „Zonengrenze“ bei Lauenburg. Autos, die aus Gaza kommen oder nach Gaza fahren, werden kontrolliert. Was hat Minister Rabin kürzlich in einem Radiointerview gesagt? „Die Palästinenser müssen einsehen, daß sie mit Gewalt nichts erreichen werden.“

Sie haben ganz schön viel erreicht. Mitten durch das Land läuft wieder eine Grenze, die „Israel proper“ von den besetzten Gebieten trennt. Die alte „grüne Linie“, von allen offiziellen Landkarten längst verschwunden, ist wieder da. Der Presseoffizier heißt Eyal, ein junger Mann im Rang eines Leutnants. Journalisten zu führen gehört zu seinem Dienst. Kurz hinter der Grenze biegt er nach rechts ab und lenkt seinen Jeep auf einen Hügel. Oben ist ein Armeelager, von hier hat man einen guten Überblick.

„Da vorne“, sagt Eyal und zeigt auf eine Ansammlung von Dächern in westlicher Richtung, „da vorne ist das Lager Jabalia. 25.000 Menschen auf weniger als zwei Quadratkilometern, eines der am dichtesten besiedelten Gebiete auf der ganzen Erde.“ Acht Flüchtlingslager gibt es im Gaza-Streifen, Jabalia „ist besonders problematisch“, soll heißen, hier kommt es besonders oft zu Zusammenstößen zwischen den Einwohnern und der Armee. Bis vor zwei Tagen war ganz Gaza unter Ausgehverbot, heute ist alles ruhig, aber es ist gerade erst zehn Uhr vormittags, und ein Teil der männlichen Einwohner ist zur Arbeit nach Israel gefahren. „Wenn sie nicht in Israel arbeiten, haben sie kein Einkommen“, sagt Eyal, „wir möchten, daß sie in Israel arbeiten, wir ermutigen sie dazu, sie haben Nutzen davon und wir auch. Aber es muß ihnen klar sein, daß die Möglichkeit, in Israel zu arbeiten, ein Privileg und keine Selbstverständlichkeit ist.“ - Genauso hat es Minister Rabin gesagt. Fast wörtlich setzt Eyal den ministerialen Originalton fort. „Es ist ein Privileg, und sie müssen begreifen, daß sie nicht tagsüber in Israel arbeiten und Geld verdienen können, um hinterher auf die Straße zu gehen und Krawall zu machen.“

Demnächst würden an Palästinenser, die in Israel arbeiten, Passierscheine ausgestellt. 99 Prozent der Pendler aus Gaza, versichert Eyal, können weiter nach Israel kommen, nur die „wenigen bekannten Provokateure und Unruhestifter“ würden keinen Ausweis bekommen. Wäre es denn nicht einfacher, diesen wenigen Krawallmachern die Einreise nach Israel zu verbieten, statt sie der großen Masse förmlich zu erlauben? „Darüber haben sich andere Gedanken gemacht, und sie haben entschieden, wie die Frage geregelt wird.“

Er könnte mit uns nicht nach Jabalia fahren, meint Eyal, dies sei nicht vorgesehen. Aber das Lager sei offen, wenn wir unbedingt möchten, könnten wir auf eigene Faust hin, auch auf eigenes Risiko. Erst mal fahren wir in südlicher Richtung auf Gaza City zu, vorbei an Kontrollposten und einem Haus, das vor vier Tagen gesprengt wurde. Vom Dach seien Steine und Benzinflaschen geworfen worden, erklärt Eyal. Das eingefallene Dach hat einen V-Knick, Kinder spielen in den Trümmern. Die Passanten gehen ungerührt an der Ruine vorbei, sie scheren sich auch nicht um die Fotografen, die aus dem Armeejeep herausfallen und den Trümmerhaufen, der mal ein Haus war, fotografieren. Wo die Einwohner jetzt leben würden? Eyal zuckt mit den Schultern. Vermutlich bei den Verwandten.

Eyal weiß, daß er es mit Zivilisten zu tun hat, deren Sinn für militärische Bräuche und Notwendigkeiten begrenzt ist. Links und rechts vom Lenkrad hängen zwei Kugeln am Armaturenbrett. Gasgranaten oder Attrappen? „Wir fahren nicht Spielzeug herum, die sind echt.“ Jede Frage ist zulässig. Wie er sich in Gaza fühlt? „Nicht schlecht“, antwortet Eyal, „im Libanon war es schlimmer.“

Es hat an diesem Tag in Gaza keine Toten gegeben, keine Verletzten, nur ein paar kleinere Zusammenstöße zwischen der Armee und einigen Jugendlichen. Das Funkgerät in Eyals Jeep hält uns über alle Vorkommnisse während unserer Tour auf dem laufenden. Vor dem Sitz des Militärgouverneurs warten ein paar junge Männer, die zum Verhör bestellt worden sind. Vor dem Gefängnis haben sich wie jeden Tag Mütter von Inhaftierten eingefunden, die auf eine Besuchserlaubnis hoffen. In der Omar-Mukhtar-Straße versuchen die Ladeninhaber, die Teerfarbe von ihren Geschäften abzuwaschen. Und am „Eretz Checkpoint“, am Eingang zum „Gaza -Strip“, treffen Reservisten, die gerade aus Gaza kommen, auf andere Reservisten, die zu ihren Einheiten in Gaza wollen. Bei „Amalia“, einem alten Bus, der zu einem Cafe umgebaut wurde, tauschen sie Erfahrungen aus. Alles normal.

Mosche lebt in Tel Aviv, ist zirka 30 Jahre alt und fährt Taxi. Im letzten Jahr hat er zwei Monate Reservedienst gemacht, in diesem Jahr werden es sechs Wochen werden. „Glaub nicht, daß ich gerne in Gaza bin“, sagt er, „aber es bleibt uns nichts übrig. Und vergiß nicht, wir leben hier im Nahen Osten. Wie sind die Algerier mit den Unruhen dort fertiggeworden? Und die Ägypter? Nur wir versuchen sauber zu bleiben, besser zu sein als die anderen. Niemand will diese Palästinenser haben, Sadat wollte sie nicht, Hussein will sie nicht...“ Und wie lange soll es so weitergehen? „Zwanzig Jahre, fünfzig oder auch hundert. Die Armee wird damit schon fertig. Wir haben keine andere Wahl - ejn brejra.“

Henryk M. Broder