Das ungeschminkte Gesicht der Besatzung

■ Im israelisch besetzten Gaza-Streifen - Ausnahmezustand aus palästinensischer und israelischer Sicht

Schwere Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und der israelischen Armee meldete die französische Nachrichtenagentur 'afp‘ aus dem israelisch besetzten Gaza -Streifen. Neunzehn Demonstranten wurden verletzt. Seit Mitte Mai herrscht im Gaza-Streifen wieder der Ausnahmezustand. Wie gehen die Bewohner dieses dichtbesiedelten und von Israel ökonomisch abhängigen Gebiets damit um, wie agiert die israelische Armee? Die taz-Korrespondenten Beate Seel und Henryk M. Broder beobachteten die Situation von beiden Seiten.

Der vertraute, immer gleich trostlose erste Eindruck von Gaza: die schwüle Hitze, die sich wie ein feuchtes Handtuch um einen legt; der beißende Rauch, der aus vor sich hin schwelenden, überquellenden Müllcontainern über die Straße zieht; die schmucklosen zwei- oder dreistöckigen Gebäude; die geschlossenen Geschäfte; die staubigen Straßen und Wege; der Abfall überall, in dem barfüßige Kinder spielen. Gaza steht für Armut, Überbevölkerung, Müll und Hitze und - in Gaza zeigt sich das ungeschminkte Gesicht der Besatzung.

Gelegentlich sieht man Soldaten auf den flachen Dächern der Häuser hocken, hier und da eine Gruppe von Militärs vor einem Gebäude, zwei Soldaten zur Absicherung am Straßenrand, das Gewehr griffbereit. Ständig patrouillieren die olivgrünen Jeeps, Truppentransporter und Kommandofahrzeuge, an ihren langen Antennen zu erkennen, durch die Stadt. Als ginge es darum, die Bevölkerung nur noch mehr gegen sich aufzubringen, rast ein Jeep in verkehrter Richtung durch eine Einbahnstraße und verursacht bewußt einen Verkehrsstau. Der Fahrer eines anderen drängt ein palästinensisches Auto mit dem weißen Nummernschild von Gaza rücksichtslos an den Bordstein. Verkehrsregel Nummer eins: Halte immer Abstand zu israelischen Militärfahrzeugen! Regel Nummer zwei: Umgehe, soweit du kannst, die israelischen Straßensperren und Checkpoints!

„Sie wollen keinen Frieden, ihr Verhalten zeigt es jeden Tag“, sagt Munir, der eine Apotheke in Gaza besitzt. „Sie“, das sind die israelischen Soldaten, im Gespräch meist einfach „djesh“, Armee, genannt. Der einzelne verschwindet hinter der Institution, unter deren Auftreten jeder, jede Familie, jedes Stadtviertel, jedes Flüchtlingslager zu leiden hat. Neben den Opfern des Aufstands, den Verletzten, den Festgenommenen, neben der Sprengung von Häusern und den vielen Ausgangssperren sind es die kleinen absurden Schikanen im Alltag, von denen jeder ein Lied singen kann. Munir wurde zum Beispiel einmal gezwungen, die Straße von Steinen freizuräumen, die er dann in seinen Laden schaffen mußte... Ein andermal habe ein Soldat seinen Ausweis kontrolliert, und weil es ein heißer Tag gewesen sei, sei der Israeli in den Laden getreten, um sich ein wenig abzukühlen. Er habe den Ventilator in Richtung des Soldaten gedreht, sagt Munir, beide hätten sich angelächelt und es habe eine menschliche Atmosphäre geherrscht. Da sei ein Offizier gekommen, habe den Soldaten nach draußen gezerrt und zu ihm, Munir, gesagt: „Halt die Klappe, sonst schlage ich dir den Schädel ein!“ - „Sie können uns den Schädel einschlagen, aber unsere Gedanken können sie uns nicht nehmen“, heißt es in einem der neuen Lieder der Intifada.

Unter diesen Umständen überrascht es kaum, wenn sich die Palästinenser Wahlen unter der Besatzung ohne internationale Beobachter, wie Israels Ministerpräsident Schamir vorgeschlagen hat, nicht vorstellen können. Fast jeder Gesprächspartner zitiert die jüngste Äußerung Schamirs, Israel werde „keinen Zentimeter“ der besetzten Gebiete aufgeben. Worüber soll die aus den Wahlen hervorgegangene palästinensische Verhandlungsdelegation dann eigentlich reden? „Sie hassen uns, wir hassen sie“, bringt ein junger Palästinenser aus dem Flüchtlingslager Jabalia, der bis zu Beginn des Aufstandes in Israel gearbeitet hat, seinen Eindruck auf eine Kurzformel. „Wir wollen mit ihnen in Frieden leben, in einem palästinensischen Staat an der Seite Israels, und zu Israel normale Beziehungen haben wie zu jedem anderen Land auch; aber sie wollen nicht.“ Vielzitiertes Beispiel: die Anerkennung Israels durch die PLO und die unverändert ablehnende Haltung der Regierung in Jerusalem gegenüber der palästinensischen Befreiungsorganisation.

Auf dem Weg in das Lager Jabalia umfahren wir eine Barrikade nach der anderen. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wurde auf die Straße geschafft: Steine, Säcke, Müllcontainer. Niemand ist zu sehen, doch es ist klar, daß es hier zu einer Konfrontation zwischen Demonstranten und Soldaten gekommen sein muß. Als wir uns dem Zentrum des Lagers, wo der Aufstand im Dezember 1987 seinen Ausgang nahm, nähern, sind die sandigen Pisten wie ausgestorben. Nur vereinzelt lungern Kinder in der Nähe der Haustüren herum. Wir hören, daß kurz zuvor eine Ausgangssperre verhängt wurde, nachdem der 18jährige Khaled Attauneh am gleichen Morgen erschossen wurde. 60.000 Menschen leben in Jabalia auf engstem Raum zusammen, in der Regel teilen sich Familien mit zehn oder mehr Personen zwei bis drei kleine Zimmer. Das ist auch bei unserer Gastfamilie nicht anders. Während wir in einem kleinen Innenhof einen Imbiß zu uns nehmen, turnt ein junger Verwandter der Familie über die Mauer zum Nachbarhaus und berichtet aufgeregt und schockiert über die Ereignisse vom Vormittag. Wie die Soldaten gekommen seien, um jemanden festzunehmen, ihr Fahrzeug mit Steinen beworfen worden sei, wie sie Tränengas, Plastikgeschosse und scharfe Munition eingesetzt hätten und von einem erneuten Einsatz der Armee gegen die anschließende Beerdigung des getöteten Jugendlichen. Alltag in Jabalia, doch die Wiederholung der Ereignisse nimmt den Anwesenden nichts von ihrer Erschütterung. Jeder Tote, jeder Verletzte ist einer der ihren. Nun stellt sich die Familie auf eine erneute einwöchige Ausgangssperre ein.

„Es gibt

keinen Weg zurück“

Nein, die Versorgung sei kein Problem, lachen Mutter und Großmutter unisono auf meine entsprechende Frage, sie hätten Vorräte für zwei Monate. Notfalls könnten sie wie ihre Vorfahren von Brot, Olivenöl und Zaatar, einer Gewürzmischung aus wildem Thymian und Sesam, leben. Nur frisches Obst und Gemüse würde auf die Dauer ausgehen. Die Schwester meines Begleiters schleppt gleich einen ganzen Stapel von Pullovern herbei: Die habe sie alle während der Ausgangssperren gestrickt. Großmutter und Mutter führen ihre Stickereien vor. Die Frauen, die das häusliche Leben ohnehin mehr gewohnt sind als die Männer, können sich offenbar besser mit der Situation arrangieren. Langweilig seien die Ausgangssperren, beklagt sich der Nachbarjunge, es bleibe einem nichts anderes übrig, als den ganzen Tag vorm Fernseher zu hängen, und wenn er auch über die Mauern klettert, um der häuslichen Enge mal zu entkommen, fehlen ihm doch seine Freunde. Außerdem müssen Jugendliche und junge Männer Razzien während der Ausgangssperre besonders fürchten. Ständig kursieren Nachrichten über Festnahmen während des Ausgehverbots. In einzelnen Fällen hatte es tödliche Folgen, den Kopf zur Tür hinauszustrecken.

Der Familienvater ist nicht anwesend, er arbeitet in Israel. Wie bei den meisten Familien im Gaza-Streifen beziehen auch meine Gastgeber ein Einkommen aus Israel. Ein Sohn und der Nachbarjunge haben ihre Arbeit jenseits der grünen Linie zu Beginn des Aufstands geschmissen. Der älteste Sohn hat ein kleines Geschäft in Gaza. Er hat einen Kaufleutestreik genutzt, um seine Familie zu besuchen, und ist nun in Jabalia hängengeblieben. Seinen Einkommensverlust durch Ausgangssperren und Streiks schätzt er auf die Hälfte seines Monatseinkommens. Der 26jährige, der verheiratet ist und fünf Kinder hat, spart, wo immer er kann. „Wir kaufen keine neuen Haushaltsgeräte und Kleider mehr, essen weniger Fleisch, und die Kinder kriegen kein Spielzeug mehr. Sie können ja Intifada spielen.“ Die Familien halten zwar eng zusammen und unterstützen sich in Notfällen gegenseitig, aber zu holen ist auch bei den Verwandten nichts.

An ein Ende des Aufstands denkt trotz der wirtschaftlichen Engpässe niemand in der Runde. „Es gibt für uns keinen Weg zurück“, sagt der Geschäftsmann, „wenn wir jetzt aufhören, verlieren wir alles.“ Noch besteht die Hoffnung, daß internationaler Druck Israel schließlich zum Einlenken bringen wird. Wenn das freilich nichts nutzt... - Der Nachbarjunge und die Großmutter sprechen ihre Gedanken nicht aus. Im Raum steht die Frage, ob dann nicht der Zeitpunkt bewaffneten Angriffs auf israelische Soldaten und Siedler käme.

Beate Seel