Die Angst der USA vor dem „Vierten Reich“

Bonner Diskussionsrunde zum Besuch von US-Präsident Bush  ■  Aus Bonn Gerd Nowakowski

Die Angst vor den Deutschen treibt die Amerikaner um. Wie tiefgreifend das - begründete oder eingebildete - Mißtrauen gegenüber dem einstigen Musterknaben der westlichen Allianz ist, wie weit dies über den aktuellen Streit um die Kurzstreckenraketen hinausgeht, beleuchtete eine vom Automobilkonzern BMW veranstaltete Podiumsdiskussion mit US -Journalisten anläßlich des Bush-Besuchs in Bonn. Das „Herz und die Leidenschaft“ der Deutschen habe sich in eine neue Richtung gewandt, analysierte gestern der Herausgeber der 'Herald Tribune‘, John Vinocur. Das amerikanische Schreckgespenst und für Vinocur die entscheidende Frage ist eine mögliche Wiedervereinigung. Zwar befürchtet er derzeit keine direkte Abwendung von der Nato, doch werde diese nur noch unterstützt, weil sie „nützlich“ sei. Die „Leidenschaft“ aber und der „Stolz, zur Nato zu gehören, ist nicht mehr lebendig“. Auch Frederick Kempe vom 'Wallstreet Journal‘ argwöhnt, die Deutschen hängten sich nur einen europäichen „Deckmantel“ um, um deutsch-deutsche Interessen zu verschleiern. Gorbatschows Initiativen rückten die Bundesrepublik ins Zentrum der geschichtlichen Entwicklung Europas. Wie sich die BRD entscheide, werde für die Zukunft viel gewichtiger sein, als amerikanische Entscheidungen, ist Kempe überzeugt. Im Verhältnis zu den USA steuere eine selbstbewußter gewordene Bundesrepublik auf „neue und mehr Freiheiten“ hin, glaubt Jonathan Carr vom Wirtschaftsblatt 'The Economist‘, und fragt, ob die BRD unkontrollierbar wird. Wie andere Vertreter der amerikanischen Presse hat auch er neue Töne zur offenen deutschen Frage bei Weizsäckers Rede zum 40. Geburtstag der BRD ausgemacht. Die Angst vor einer Bundesrepublik, die mit Gorbatschows Hilfe nicht nur zur bestimmenden Wirtschaftsmacht West-, sondern auch Osteuropas werde und dann auf eine Wiedervereinigung drängen werde, hatte kürzlich bereits der 'New York Times' -Kommentator William Safire ausgedrückt. Er sprach von einer D-Mark-Zone von Reykjavik bis Murmansk in einem vierten deutschen Reich. Die Bundesrepublik habe über sehr lange Zeit erst lernen müssen - angefangen mit Mauerbau und Vietnamkrieg - daß die USA andere Interessen als die Deutschen hätten, sieht dagegen der amerikanische Politikwissenschaftler David Conradt. Eine Trennung von der Nato aber hält er angesichts der gewachsenen Gemeinsamkeiten für unvorstellbar. Er bescheinigte den Amerikanern eine Tendenz zur Überreaktion. Der USA-Kenner Professor Czempiel von der Universität Frankfurt sieht die Verhaltensweise der USA allerdings nicht im Irrationalen begründet. Die Amerikaner hielten vielmehr an der Nato fest, weil der Militärblock die einzige Organsiationsstruktur des Westens sei - eine politische Organisation für eine westliche Integration, wie sie seit Gorbatschow notwendig sei, existierte nicht. Ob das Mißtrauen der USA sachlich berechtigt ist oder nicht, sei gleichgültig, gab Peter Staich vom ARD-Büro in Washington zu bedenken: In den USA werde Politik aus dem Bauch gemacht, und wenn diese Stimmung umkippe, dann hülfen keine Argumente mehr.