Jelzin doch im Obersten Sowjet

■ Russischer Abgeordneter macht Listenplatz für Jelzin frei / Forderungen von 100.000 Demonstranten erfüllt

Berlin (afp/taz) - Am Abend fiel doch noch die Entscheidung, die viele kritische Sowjetbürger aufatmen läßt: Boris Jelzin, von mehr als 80 Prozent der Wähler in Moskau zum Volksdeputierten gewählt, ist doch noch Mitglied des Obersten Sowjets geworden.

Der Kongreß der Volksdeputierten entschied am Montag abend nach langer Debatte, Jelzin als Nachrücker für den Abgeordneten Alexej Kasannik zu benennen, der auf sein Mandat verzichtete. Michail Gorbatschow hatte sich vor dem Kongreß für die Wahl Jelzins eingesetzt. In der Nacht zum Samstag hatte Jelzin die wenigsten Stimmen der 12 russischen Kandidaten erhalten, die sich um die 11 Sitze bewarben. Diese Wahlniederlage wurde von den Reformern als Rache der Konservativen gegen Jelzin gewertet.

Dagegen ist von einer Kandidatur Jelzins für das Vizepräsidentenamt keine Rede mehr. Gewählt wurde ein persönlicher Freund Gorbatschows, Anatolij Lukjanow, der mit Michail Gorbatschow zusammen Jura studiert hat und Fortsetzung auf Seite 2

ihm auf seiner Karriereleiter folgte. Nach erbitterten Debatten wurde er bei nur 179 Gegenstimmen und 137 Enthaltungen von den seit Donnerstag tagenden etwa 2.250 Deputierten des Volkskongresses mit großer Mehrheit zum neuen Stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Sowjets gewählt. Seit Anfang 1987 ist er ZK-Sekretär und damit derjenige, über dessen Schreibtisch die

Vorlagen für die ZK-Sitzungen laufen. Er war also schon bisher ein mächtiger Mann, der über die Regie beziehungsweise die Vorbereitung entscheidender Sitzungen der wichtigsten Gremien der Partei und auch des Volkskongresses zu entscheiden hatte.

Gerade diese Machtfülle löste Diskussionen aus, die Gorbatschow auch gestern während der Sitzung zu unterbinden suchte. Vergeblich, denn mehr als ein Drittel der Abgeordneten stimmte für eine Veränderung der Tagesordnung und eine Diskussion über den Kandidaten. Und dabei gelang es den Ermittlungsrichtern Telmann Gdljan und Nikolai Ivanow, die sich in den letzten Monaten als unerschrockene Kämpfer gegen die Korruption profiliert hatten und sogar dem Nestor der Konservativen, Jegor Ligatschow öffentlich ans Zeug flickten, kritische Anmerkungen zu Lukjanow zu machen. Ivanow führte eine scharfe Klinge: Der Kampf gegen das zunehmende organisierte Verbrechen werde „durch die derzeitige

Staatspolitik“ zum Stillstand gebracht. Und auch zu den Ereignissen in Tiflis, als „irgendeine“ Behörde den Einsatzbefehl gegen die Demonstranten gab, der den Tod von mindestens 16 Menschen verschuldete, hat Lukjanow nach Meinung des georgischen Delegierten Thomas Gamkrelidse nur unbefriedigende Antworten von sich gegeben. Doch alle Kritik verpuffte, als der berühmte Historiker Roy A. Medwedew („Die Wahrheit ist unsere Stärke“) zur Wahl Lukjanows aufforderte. „Wir brauchen einen Stellvertreter, der das Schiff in dieselbe Richtung weiterlenkt, wenn Gorbatschow nicht anwesend ist“, sagte Medwedew und verteidigte so Lukjanow, der von sich sagte, erst sechs Stunden nach den Überfall der Sicherheitskräfte auf die Demonstranten in Tiflis informiert worden zu sein. „Da Gorbatschow und Lukjanow den Befehl nicht gaben, müssen in diesem Saal Leute sitzen, die schweigen. Wer sind diese Leute?“ fragte Medwedew, ohne eine Antwort zu erhalten.

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