Natur oder Transit - das ist hier die Frage

■ Noch in dieser Woche muß der Senat eine Entscheidung über den neuen Süd-Grenzübergang am Schichauweg treffen / Die AL hat grundlegende ökologische Bedenken dagegen / Heute diskutiert der Delegiertenrat das Thema / DDR will bis 5.Juni Bescheid wissen

Noch immer hat der Senat keine Entscheidung über den mit der DDR vereinbarten neuen Grenzübergang am Schichauweg im Süden Berlins getroffen. Ohne Beschluß gingen - verspätet - die SenatorInnen gestern auseinander. Sie nahmen Rücksicht auf die Alternative Liste, die sich heute abend im Delegiertenrat entgültig eine Meinung zu dem umstrittenen Projekt bilden will.

Der dritte Grenzübergang im Süden Berlins war im Oktober 1988 zwischen der Bundesregierung und der DDR vertraglich vereinbart worden. Der Diepgen-Senat hatte als Standort den Schichauweg favorisiert. Die Position von Verkehrssenator Horst Wagner (SPD) macht keinen Hehl daraus, daß er zum Schichauweg „wenig Alternativen“ sieht. Das Gutachten des rot-grünen Senats, in dem noch einmal alle denkbaren Varianten geprüft wurden, kommt im Wesentlichen zum selben Ergebnis, das schon der CDU/FDP-Senat ermittelt hatte. Ökologische Eingriffe sind mit dem Bau einer Grenzanlage an jeder Stelle verbunden. Dieses Dilemma machte gestern auch Umweltsenatorin Schreyer deutlich. Der Standort Schichauweg scheint dem Senat nach Auswertung des Gutachtens in Abwägung aller Komponenten nach wie vor der günstigste. Die Gegend ist ein dichtbesiedeltes Industriegebiet, in unmittelbarer Nähe gibt es keine Wohnanlagen. Beeinträchtigungen werden für die Anwohner der Kreuzung Motzener Straße Egestorffstr./Schichauweg erwartet. Der Standort Schichauweg würde die Steglitzer und Zehlendorfer vom Verkehr zur Kontrollstelle Dreilinden entlassen. Die Marienfelder Feldmark, von der ohnehin nur noch wenig übrig ist, würde je nach Größe und Umfang der Grenzanlagen - nahezu völlig zerstört werden.

Alle anderen Varianten brächten nach dem Senatsgutachten jedoch entweder nicht die nötige Entlastung des Zehlendorfer Grenzübergangs, oder seien auch von Seiten der DDR unerwüscht. Bei der Überprüfung der Marienfelder Allee als Übergang hat sich ergeben, daß auf DDR-Gebiet hier eine landwirtschaftliche Versuchsfläche angelegt wurde, die eine weiträumige Umfahrung nötig machen und damit eine Verlängerung der Strecke zum Berliner Ring mit sich bringen würde. Außerdem müßte eine Ortsumfahrung für Großbeeren gebaut werden. Auf West-Berliner Seite müßten viele Kleingärten weichen. Viele Kilometer neuer Straßen in der DDR wären auch beim Standort Kirchhainer Damm nötig. Die alte Fernstraße mit ihrem Anschluß an den Großberliner Ring kommt nicht in Frage, weil diese Trasse durch mehrere Ortschaften führt.

Verkehrssenator Wagner läßt derzeit noch eine neue Variante prüfen, nach der die Großmarienfelder Feldmark „nicht berührt und nicht durchschnitten“ werden soll. Auf dem Gelände einer Industriebahn, der die Reichsbahn untersteht, könne eine Trasse gebaut werden. Die führe dann allerdings auch durch das Gelände eines Wasserwerks, das hier bereits neue Anlagen geplant habe, sagte Wagner.

Der in der letzten Woche von der AL-Fraktion eingebrachte Kompromißvorschlag, PKW und LKW-Verkehr zu splitten und die Autos über die Waltersdorfer Chaussee zu leiten, gefällt Verkehrssenator Wagner nicht. Er persönlich halte das nicht für sinnvoll, erklärte er gestern, wolle aber dem Senatsbeschluß nicht vorgreifen. Doch auch das Gutachten nennt für die Waltersdorfer Chaussee nur Nachteile. Wenig Entlastung für den Übergang Dreilinden und ein großer Eingriff in die Natur auf dem Gebiet der DDR. Doch nicht nur bei Verkehrssenator Wagner ist die Fraktion damit abgeblitzt. Auch die Mitgliedervollversammlung sprach der Fraktion für ihr Vorpreschen eine Rüge aus und verwies auf die AL-Position, daß man möglichst viele Übergänge haben wolle und nicht nur einen.

Für die Fraktion eine schwer handhabbare Grundsatzposition. Denn konkret geht es nun um diesen einen Übergang. Die Zeit drängt mal wieder. Am 5.Juni finden die nächsten Gespräche mit der DDR statt, die dann definitiv wissen will, wo genau denn nun der Grenzübergang sein soll. Sie will nämlich am 1.Januar 1990 mit dem Bau der Anlagen und Straßen beginnen.

Auf der gestrigen Fraktionssitzung trafen die Abgeordneten der AL keine Entscheidung. Sie wollen abwarten, wie die Diskussion in den Bezirken und im Umwelt- und Verkehrsbereich verlaufen ist. Wenn der Delegiertenrat der Liste heute abend tagt, hat er wenig Spielraum. Denn eine wirklich ökologische Lösung gibt es offenbar nicht. Deswegen kann die Liste entweder dem Standort Schichauweg zustimmen und Fraktion und Senatorinnen beauftragen, sich dafür einzusetzten, daß die Anlage möglichst umweltverträglich gebaut wird. Oder er kann sich für die Nullösung aussprechen - gar keinen Grenzübergang zu bauen. Doch dann hätte die Partei ein deutschlandpolitisches Problem am Halse. Sie müßte mit dem Vorwurf leben, ein „Loch in der Mauer“, das der Diepgen-Senat gehauen hat, wieder zugeschüttet zu haben. Und da, das wurde bereits deutlich signalisiert, macht mit Sicherheit die Partei der Ostverträge, die SPD, nicht mit.

bf