Geschlossene Gesellschaft

■ Das diesjährige Berliner Theatertreffen ist zu Ende: Zu sehen waren zehn Stücke, davon fünf ganz neue und drei aus der DDR

Ein Treffen kam nicht zustande. Die erste Aufführung war am 3.Mai, die letzte am vergangenen Wochenende; die Gäste kamen, wie jedes Jahr, fein säuberlich nacheinander, und auch das Off-Rahmenprogramm im Spiegelzelt, das in den vergangenen Jahren wenigstens für ein bißchen Diskussion vor Ort sorgte, ist gestrichen. Nächstes Jahr soll's auch die Workshops nicht mehr geben. Um so mehr fallen die wenigen Stücke ins Gewicht, denen zuliebe der Rest geopfert wurde.

Langsam begreife ich, warum die Berliner so froh sind, daß in diesem Jahr erstmals die DDR dabeisein durfte. Beim Pressegespräch zu Heiner Müllers Lohndrücker erging sich Festspielleiter Ulrich Eckhardt eine Viertelstunde lang in Lobhudeleien, die in dem Geständnis gipfelten, daß wir Westler an den Aufführungen immer nur „als Außenstehende teilnehmen“. Was als Kompliment gemeint war: Während wir hier schon längst nicht mehr wissen, was eigentlich auf der Bühne noch verhandelt werden soll, haben die da drüben Probleme zuhauf. Hierzulande langweilt man sich in kunstfertiger Botho-Strauß-Manier, auf den Bühnen drüben sehnt man sich nach Moskau (in Volker Brauns Übergangsgesellschaft), nach „weniger Ideen und mehr Brot“ (in Erdmans Sowjetpionierzeit-Satire Der Selbstmörder), man arbeitet die Stalin-Zeit auf und überhaupt die Tücken des real existierenden Sozialismus (im Lohndrücker). Wir Westler staunen - daß die das dürfen!

-und beklatschen hinterher die Zensur, weil sie nicht stattfand.

Heiner Müller läßt sich brav als Ost-Star präsentieren, beantwortet beim Publikumsgespräch jede noch so dumme Frage, und als es spannend wird, kneift er. Jemand weist darauf hin, daß er die Einladung seines Lohndrückers zum Theatertreffen in Radio DDR als Etikettenschwindel bezeichnet habe. Er beeilt sich, reumütig seinen Irrtum zu gestehen. Womit meine leise Hoffnung endgültig zerstört ist, seine Inszenierung des sprücheklopfenden 50er-Jahre-Stücks über nichts weiter als einen kaputten Ringofen sei mit all den hinzugefügten weisen Müller-Sentenzen und Zwischenüberschriften aus dem Off, den Filmszenen, Stück und Musikzitaten klammheimliche Selbstironie. Nein, er meint es ernst, wenn er die wichtigsten Szenen zwei- oder dreimal wiederholt: Die Wiederholung nämlich macht aus dem Kummer der schlechtbezahlten Arbeiter hochdotierte Kunst. Und Mozarts „Chor der Geharnischten“ erhebt zusammen mit Hölderlins „Tod des Empedokles“ den Ringofen zum Symbol für sämtliche ungelösten Menschheitsprobleme. Mindestens.

Daß der Wiener Bühnenbildner Erich Wonder von der DDR keine Ahnung hatte, war Müller zufolge die beste Voraussetzung für seine Arbeit. Auch er selbst habe den echten Helden Hans Garbe, der 1949 zwecks Reparatur ins Ringofen-Feuer ging, erst hinterher kennengelernt, genauso wie den VEB Elektro -Kohle. Echte Arbeiter auf einer DDR-Bühne, das sei doch obszön und pornographisch, deshalb sehen die Arbeiter im Lohndrücker alle gleich aus, tragen Schiebermützen, weiße Gesichter und knallrot angemalte Hände. Müller: „Das Theater ist eine Situation, die nicht für sich selber steht. Zuviel Detailkenntnis schadet nur.“

Womit er recht hat. Er vergißt bloß, daß es um so mehr auf die theatralischen Details ankommt. Er rettet sich in Stilisierung und unverbindliches Philosophieren, während auf der Bühne bloß leblose Puppen hampeln, die nichts repräsentieren als ihre Funktion: den Helden, die Masse, den Chef, den Bürokraten und die Sekretärin, die mit dem Hintern wackelt. Karikaturen, aber Lachen ist verboten.

Karikaturen auch im Selbstmörder. Am Anfang streitet ein Ehepaar um die Leberwurst, eine Szene wie von Ernie und Bert. Dann treten auf: die russische Intelligenz, der Spießer, der Dichter, der Pope, die Halbweltdamen, der Händler. Einer komischer als der andere, allen voran der arme Kleinbürger Podsekalnikov, der die Nase voll hat und sich umbringen will. Da wird chargiert, gekalauert und schrill übertrieben - so steht es bei Erdman, das Stück von 1930 wurde seinerzeit verboten. Horst Hawemann und das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin haben die Rezeptionsgeschichte mitinszeniert, provisorische Bretterverschläge auf die Bühne gestellt und Türen, hinter denen nichts ist und die auch schon mal umgangen werden. Über dem Szenario hängt - seitenverkehrt - die Leuchtschrift „Schöne rote Welt“: Was wir sehen, ist die Rückseite. Auf den Brettern jedoch agieren nur Charaktermasken, der falsche Selbstmörder Horst Westphal zuckt von Anfang bis Ende mit dem Kopf wie eine Echse und redet mit gepreßt hoher Stimme. Er trägt die immer gleiche verrückte Haltung zur Schau, konsequent und gekonnt, aber irgendwann sehnt man sich danach, daß er aus der Rolle fällt. „Hinter diesen gewesenen Menschen, hinter den Schatten, der Groteske stecken wirkliche Menschen aus der wirklichen Welt“, sagt Regisseur Hawemann. Leider zeigt er es nicht.

„Dieses Haus ist die Welt“, sagt Adrien in Koltes Rückkehr in die Wüste. Erich Wonders Lohndrücker -Fabrikhalle in Schuhschachtelform ist immerhin so aus den Fugen geraten, daß hinter den sich hebenden Wänden das Panorama von Ost-Berlin zu sehen ist. Hinter Koltes‘ Haus beginnt die Wüste. Aber Adrien (Christian Grashof) verläßt es nie. Bei Botho Strauß, in Bernhards Heldenplatz sind die Figuren in Zimmern gefangen, bei Koltes und bei Tschechows Platonov in einem Haus mit Garten. Das Theater als klaustrophobische Anstalt. Er habe sich gefühlt wie im Aquarium, sagt einer der Lohndrücker -Schauspieler. Die Theaterstücke, die wir in diesem Jahr sahen, pferchen Menschen zusammen in Zimmern, Schuhschachteln, Bretterverschlägen und Glaskästen, die Theatermacher präsentieren, studieren und sezieren geschlossene Gesellschaften, die panisch aus ihren Gefängnissen flüchten wollen. Aber sie kommen höchstens bis in den Garten. Und statt um die Panik geht es auf der Bühne ums allgemein Menschliche. Die Regisseure installieren Versuchsanordnungen, aber sie riskieren nichts. Sie starren aufs Netz und den doppelten Boden und vergessen darüber das Trapez in der Kuppel. Hier bricht sich keiner das Genick.

Koltes und Tschechow: Die beiden spannendsten Stücke des diesjährigen Theatertreffens sind einander seltsam ähnlich. Beide sind unausgegoren, beide sind Familientragödien, in beiden - und nur diesen beiden - sind die Gefühle heftig. In beiden schwankt die Sprache. Koltes‘ Diktion fällt von einem Moment zum nächsten von der Kunst in den Klatsch, von der Tagespolitik ins Abstrakte, von der Klamotte ins wissenschaftliche Theorem. Adrien monologisiert über den Menschen als Affen, seine Schwester (Elisabeth Schwarz) sagt: „Ich hab‘ Schiß“, um im nächsten Moment wie ein Marktweib zu schwadronieren, es geht um Araber in Frankreich, um Rechtsradikale und Zellvermehrung, also um Aids, um Algerien und die Trunksucht. Aber vor allem um Bruder und Schwester, die sich nicht riechen können. Koltes pflegt eine hohe Kunstsprache und fällt doch ununterbrochen aus ihrem Rahmen. Die Sehnsucht nach der fernen Wüste, die doch direkt vor der Haustür liegt, konterkariert er mit einem Monolog von Adriens Sohn über die rasende Geschwindigkeit, mit der sich die Erde dreht, und wieviele zigtausend Kilometer entfernt er landete, wenn er nur zwei Sekunden in die Luft springen würde. Zum Teufel mit der Schwerkraft. Keines der in diesem Jahr gezeigten neuen Stücke spricht mehr aktuelle politische Themen an als das von Koltes, aber er handelt sie nicht einfach ab. Zum Glück. Er jongliert mit den Bällen und schert sich nicht drum, wenn er sie nicht wieder auffängt.

Alexander Lang macht mit dem Stück das genaue Gegenteil. Er verwandelt das Haus in einen abstrakten rosa-orangefarbenen Raum (wegen der Wüste), stilisiert die Figuren und zeigt uns eine Parabel. Christian Grashof als Adrien ist zwar ein wunderbarer Schauspieler, der aus Adrien den Affen macht, der seine bloßen Füße seitlich und verkrampft auf den Boden setzt, als sei jeder Schritt lebensgefährlich, und nach dessen brüchig flüsternde Stimme man bei den zahllosen von Lang wohl verlangten Brüllarien vermißt. Aber es ist wie bei Westphal: Er bleibt immer er selbst.

Man sieht es bei Platonov. Grashof spielt den Arzt Ivanovic, der sich immer langweilt, säuft und um Zigaretten streitet. Dieselben Gesten, derselbe Ton, der gleiche gichtgebeugte Rücken, der gleiche Schritt. Regisseur Flimm macht mit Tschechow das Gegenteil wie Kollege Lang mit Koltes: Lang treibt Koltes den Schund aus, unterschlägt das Schäbige (und bei der Pressekonferenz den Tod des Dramatikers: kein Wort darüber, daß Koltes an Aids gestorben ist). Flimm reduziert Tschechow auf die Komödie. Platonov - das frühe Stück ist so etwas wie die Rohfassung der Drei Schwestern - versammelt eine skurrile Gesellschaft im Landhaus der Generalin, aus Langeweile disputiert man über Gott und die Welt. Und verliebt sich. Spannend ist dabei, daß die Spielereien unversehens umschlagen in tödlichen Ernst, daß gekokelt wird, und schon steht das Haus in Flammen. Der Dorflehrer Platonov, ein beißender Satiriker, dem nichts auf der Welt mehr heilig ist, stürzt sämtliche Frauen ins Unglück, sie verlassen ihre Männer, machen Selbstmord für ihn, zerstören ihr Leben.

„Sie haben Kummer, und sie spielen Theater“, heißt es einmal, und Tschechows Kunststück besteht darin, daß er sich immer zugleich über das amüsiert, was gemeinhin russische Seele genannt wird. Flimms Platonov ist frech, sonst nichts. Dem betrogenen Ehemann hängt immer das Hemd aus der Hose, der Kampf der Geschlechter wird als Versteck- und Fangspiel ausgetragen, man torkelt besoffen, frau fällt in Ohnmacht, Hauptsache Action. Das steht so bei Tschechow, aber das ist nur das halbe Stück. Man kann nicht die Leidenschaft als lächerlich entlarven, ohne den Affekt selbst zu zeigen. Man kann nicht übertreiben - und Theater muß das tun, anders als Kino, denn die Bühne ist weit weg ohne zu zeigen, was die Figuren überhaupt treibt. Platonov ähnelt dem Vicomte in Gefährliche Liebschaften, aber anders als Stephen Frears Film enthält Flimm uns jede noch so leise Ahnung vor, warum alle Frauen ihm erliegen.

Es scheint mal wieder Mode zu sein, die Klassiker gegen den Strich zu bürsten, sie zu entmystifizieren. Das haben wir auch beim Armen Vetter gesehen und beim alles andere als somnambulen Käthchen aus Heilbronn: so burschikos dürfte das fromme Kind auf Deutschlands Bühnen noch nie ausgesehen haben (dem unsäglichen Kitsch der Basler Inszenierung mit ihren aufwendig psychedelischen Bühnen-Traumbildern tut das wackere Käthchen trotzdem keinen Abbruch).

„Wir haben vielleicht, in einem solchen Buch, uns selbst auf einer Höhe der Empfindungen kennengelernt, auf der wir uns irgendwie weiterbeschäftigen wollen, nun außerhalb des Buchs. Wir haben zwar auf imaginärem Wege (des Romans) die vergessene Leidenschaft wieder aufgefunden, aber das, was sie in uns auslöst, ihr Affekt, ist keineswegs imaginär, er ist ganz wirklich, wie Tränen oder Zittern eben wirklich sind; ein Gefühl, das gebraucht werden will, es verlangt nach persönlicher Erfahrung. Aber in unserer alltäglichen Gegenwart entspricht ihm nichts... So hockt sie in uns, nach dem Buch, die startbereite Leidenschaft, doch niemand ruft sie ab.“ Schrieb Botho Strauß vor über zehn Jahren in Die Widmung. „Ich bringe ihn nur rasch über die Bühne“, schreibt Botho Strauß heute in Besucher.

Ein paarmal war es doch anders. Bei Heinz Bennent, bei Udo Samel, bei Elisabeth Schwarz. Sie spielt die Generalin im Platonov (als Adriens Schwester in Rückkehr in die Wüste darf sie nicht spielen), auch sie verliebt sich in den Lehrer. Er sitzt auf der Schulbank, sie dahinter, sie hat ihren Hut ausgezogen, das macht sie Jahre jünger, sie streckt die Hand nach ihm aus, sie berührt ihn nicht, sie macht die Finger ganz lang. Eine Sekunde zu lang. Diese Sekunde ist der Ernstfall, der Raum zwischen Fingerspitze und Rücken. Wenig später begreift sie, daß sie für Platonov nur eine unter vielen ist. Sie tritt aus dem Ensemble heraus, nach vorn an die Rampe. Sie schaut ins Publikum. Für sich, entwaffnet. Behelligt uns mit der ganzen Ohnmacht ihrer Gefühle. Es ist schrecklich. Aber Flimm läßt sie fallen. In Ohnmacht, was sonst. Ein billiger Schluß.

Christiane Peitz