Auch „Grünkreuz“ in Tiflis eingesetzt

■ Zwei georgische Professoren beschreiben den Einsatz der Sondertruppen am 9.April / Vergiftung erfolgte in drei zeitlich verschobenen Wellen / Beobachtung der Kranken dauert noch ein Jahr

Berlin (taz) - Immer noch schlagen die politischen Wellen in der Sowjetunion hoch, wenn über den Einsatz der Sondertruppen des Innenministeriums gegen die hungerstreikenden Demonstranten in Tiflis am 9.April gesprochen wird. Auf dem gegenwärtig tagenden Kongress der Volksdeputierten, die in einer Schweigeminute den mehr als 20 Opfern gedachten, gab der georgische Deputierte Tamas Schawgulidse bekannt, alle Abgeordneten hätten ein Dossier über die Ereignisse erhalten. Witalij Worotnikow, Vorsitzender des Obersten Sowjet der russischen Föderation, hatte am Donnerstag vorgeschlagen, der Kongress sollte aus seiner Mitte eine parlamentarische Kommission zur Untersuchung der Vorfälle in Tiflis bilden.

Für die Professoren Lomouri und Kachiani, die sich zur Zeit im Rahmen der von der „Gesellschaft für sowjetisch-deutsche Freundschaft“ organisierten „Georgischen Woche“ in West -Berlin aufhalten, hat es schon seit November 1988 eine zunehmende Politisierung in Form von Demonstrationen und Streiks in Tiflis gegeben. Letztlich zeigte sich die Regierung der georgischen SSR hilflos und rief die Armee.

Professor Lamouri, der die Ereignisse selbst miterlebt hat, ist wie Professor Kachiani, der in der Untersuchungkommission der georgischen SSR als Leiter der medizinischen Unterkommission fungierte und bei allen Obduktionen anwesend war, davon überzeugt, daß „CS-Gas, CN -Gas, Chlorazetophenon und Chlorpikrin“ von den Sicherheitstruppen verwendet wurden.

Chlorpikrin, das unter dem Namen „Grünkreuz“ besser bekannt ist, gilt als Kampfgas, das auf die Lunge einwirkt und zu Erstickungsanfällen führt. Für Zaal Kachiani ist noch ungewiß, welche Genesungschancen die Patienten haben. Die Zahl der Opfer jedenfalls ist groß. Auf dem Platz selbst wurden 16 Menschen erschlagen und vergiftet, darunter 14 Frauen im Alter zwischen 15 und 70 Jahren, drei weitere starben am folgenden Tag, ein Mann wurde in seinem Auto erschossen. „Nicht alle Menschen wandten sich an die Krankenhäuser, dennoch wurden dort über 4.000 Kranke registriert. Von ihnen wurden 3.326 ambulant und 653 stationär behandelt.“ Noch am 3.Mai lagen 472 Menschen im Krankenhaus. Die Vergiftungen verliefen in drei Wellen: die erste am 9.April. „Die zweite Vergiftungswelle hatte einen makabren Auslöser: Die Bevölkerung von Tiflis hatte zum Gedenken an die Opfer auf dem Platz Blumen niedergelegt. Die Reinigungsarbeiter wurden vergiftet, als sie die Blumen entfernten. Die dritte Welle betraf dann Schulen und Kindergärten in weiterer Entfernung vom Platz.“ Diese Menschen zeigen die Symptome der Vergiftungen, sind jedoch nicht so schwer wie diejenigen der ersten Welle betroffen. Die Beobachtung der Erkankten wird noch ein Jahr dauern.

Walter Süß/er