Gorbatschow, der Reformer spricht

■ Programmatische Rede zur Perestroika vor den Delegierten des Volkskongresses in Moskau

Moskau (dpa/ap/taz) - Senkung der Verteidigungsausgaben Moskaus, ein neues Wahlrecht, Sicherung des Rechtsstaats, Anpassung der sowjetischen Gesetze an das Wiener Menschenrechtsabkommen und einen Kompromiß für die in Aserbaidschan liegende armenische autonome Region Berg -Karabach: Michail Gorbatschow bot in seiner Rede vor dem in Moskau tagenden Volkskongreß ein breites Programm. Noch einmal faßte er die Aufgaben der Perestroika zusammen, wiederholte schon formulierte Vorhaben und differenzierte Bekanntes. Erstmals jedoch nannte der neue Staatsschef neue Zahlen über den Militärhaushalt der Sowjetunion. Vor den 2.155 anwesenden Deputierten gab Gorbatschow bekannt, woran die westlichen Geheimdienste solange rätselten: 77,3 Milliarden Rubel (235 Milliarden Mark) werden zur Verteidigung der UdSSR ausgegeben, so der Chef. Fortsetzung auf Seite 7

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Das Urteil der Moskau-Gruppe über den Kongreß:

Ein taz-Interview

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Das ist viermal soviel, wie bisher von offizieller sowjetischer Seite zugegeben wurde. Zehn Milliarden Rubel wurden bereits im laufenden Haushaltsjahr eingespart. Und für die Jahre 1990/91 wolle die Sowjetunion die Ausgaben dann noch einmal um zehn Milliarden Rubel oder 14 Prozent der gesamten Summe senken.

Michail Gorbatschow mochte in seiner Rede jedoch nicht die Zahlen bestätigen, die vor einigen Wochen in der Reformerzeitschrift 'Ogonjok‘ veröffentlicht wurden. Dort nämlich hatte ein sowjetischer Wissenschaftler vorgerechnet, der Rüstungsetat belaufe sich auf 200 bis 300 Miliarden Dollar, ein Betrag, der etwa dem gegenwärtigen Haushaltsdefizit entspricht.

Gorbatschow forderte hohe Finanzmittel zur Überwindung der Wirtschaftskrise. Als Gründe für die derzeitigen Schwierigkeiten sieht der neue Staatschef die „Fehler der Vergangenheit“, das riesige Haushaltsdefizit sowie den Reaktorunfall in Tschernobyl an.

Von einem „ungarischen Weg“ jedoch wollte Gorbatschow nichts

wissen. Vorschläge, die auf eine Marktwirtschaft hinauslaufen würden, seien abzulehnen, weil sie zu sozialen Unruhen im gesamten Land führen würden. Dagegen sei von der Dezentralisierung der Entscheidungsprozesse in der Wirtschaft viel zu erwarten.

Den Deputierten trug er auf, ein Gesetz zur finanziellen Selbstverwaltung der Sowjetrepubliken zu erarbeiten, das der Kongreß auf seiner Herbsttagung verabschieden sollte. Ohne diese entscheidende Reform habe die Losung „Alle Macht den Sowjets“ keinerlei Bedeutung mehr.

Auf der politischen Ebene konkretisierte Michail Gorbatschow den begonnenen Umwandlungsprozess. Der Kongreß der Volksdeputierten sollte mehr Kompetenzen erhalten und sein Tätigkeitsfeld gegenüber anderen Entscheidungsgremien ausweiten, forderte der Vorsitzende. Die Wahlgesetze im Land müßten verändert werden. Die bisher gehandhabte Praxis, so Gorbatschow, sei zu kompliziert und weise zu viele Fehler auf.

Gorbatschow ließ aber offen, ob die Wahlrechtskommissionen wie in den baltischen Ländern nun auch im ganzen Land abgschafft werden. Die Schaffung eines sozialistischen

Rechtsstaates sei eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Perestroika. Und dazu gehörte dann nicht nur das ständig tagende Parlament, der neue Oberste Sowjet, sondern ebenfalls auch eine Art Verfassungsgericht. Zur Stärkung des Rechtsstaates sollten Gesetze über die Gewissensfreiheit und die Pressefreiheit erlassen werden. Dabei sollten die wichtigsten Gesetze mit dem Wiener Menschenrechtsabkommen in Einklang stehen.

In kritischer Absicht, aber ohne Namen zu nennen, warnte Gorbatschow davor, sich des Nationalitätenproblems zu bedienen, „um Ausschreitungen mit tragischem Ausgang und Menschenverlusten“ zu provozieren. Diese Dinge dürften nie wieder geschehen, erklärte Gorbatschow und spielte damit auf die Ereignisse in Georgien an.

Am Nachmittag stimmten die Volksdeputierten einer Kompromißlösung in der Frage der Vertretung der Region Berg -Karabach im Obersten Sowjet zu. Er sieht vor, eine Liste aus drei Abgeordneten zu bilden, die in der mehrheitlich von Armeniern besiedelten aserbeidschanischen Region aus zwei Armeniern und einem Aserbeidjaner bestehen soll.

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