DAS NICHTS AM KÖRPER

■ Deterritorialisierung sozialdemokratischer Nacktheit im städtischen Erlebnisraum

...wieder eine entkleidet sich

so schamlos, wie das Mädchen

mit den Sterntalern (Adorno)

Decke Deinen Schleier auf und

hebe die Schleppe hoch. Dein Schoß

soll aufgedeckt, gesehen Deine

Blöße werden, ich übe Rache aus. (Jesaja, 47,2)

Ein Freund sagte mir, der rot-grüne Senat hätte beschlossen, alle Grünflächen für die Nackten freizugeben, hätte beschlossen, das Nacktbaden obligatorisch zu machen. Anke Martiny hätte von der Diskriminierung des Natürlichen gesprochen, der nun ein Ende gemacht werden müsse. Und nackt wären doch alle gleich. Nackt sei das Normale, nicht angezogen. Am 7.März hatte die 'BZ‘ noch offen sexistisch Nun müssen Sie das Röckchen heben getitelt. Nun haben die Rot-Grünen das Röckchen gehoben, und ich beeilte mich, dem nachzugehen. Bestens vorbereitet; das letzte Wochenende hatte ich auf Amrum und der schönen Hallig Hooge verbracht und hatte auch gleich eine Karte an Helmut Höge geschickt, was mir sehr witzig vorkam. Was ich sagen wollte: auf Amrum gibt es nicht nur FKK- und Hundestrände, sondern auch einen FKK-Zeltplatz und in der einzigen Bar am Orte lassen die 30- bis 40jährigen lückenlos akademisch-braunen Hippie-Camper zu den rockigen Klängen von Showaddywaddy und anderer Frühsiebzigerjahrebands wenn es spät wird bedenkenlos die Hüllen fallen. In Berlin nun wieder, hergekommen aus weiter Welt (Adorno), hörte ich auf Radio 100 Michael Moon über schwule Nacktkultur herziehen. Es wäre doch nicht schön, so Moon, daß am Tuntengrill im Tiergarten, die nackten Schönen immer nur auf das EINE schauten - (und mir fiel gleich Frau K., die Mutter eines Freundes, ein, die nach dem ersten Besuch eines FKK-Strandes meinte: Ich hab‘ ja nie geahnt, was für Unterschiede es bei den Männern gibt...) - schließlich gäbe es doch auch noch anderes, z.B. ein Gesicht. Und überhaupt störe es ihn, daß die Schwulen sich so isolieren würden. Einer hätte gar gesagt, ich will doch keine Titten seh'n! Und man sei doch gegen das Patriarchat und der Schwanz sei doch Symbol des Patriarchats, und deswegen solle man doch mal mit dieser Schwanzfixiertheit aufhören und stattdessen im gemeinsamen Kampf... sich Titten und Mösen ansehen, hab‘ ich mit so gedacht, und mich sofort gegeißelt, und Longin über das Erhabene studiert.

Die Natur, so sagt der, setzte uns die Schamteile nicht ins Gesicht und auch nicht die Ausscheidungsorgane der ganzen Körpermasse, sondern verbarg sie, soweit es ging, und legte, - nach Xenophon - die Abflußkanäle möglichst fern, um dadurch nicht die Schönheit des ganzen Geschöpfes zu entstellen.

Auch Musikjournalisten schauen züchtig nur aufs Gesicht beim Hamburger Tom Jones-Konzert allerdings rief eine Kollegin von 'Bild der Frau' begeistert nur immer Zeig Deinen Schwanz! Zeig Deinen Schwanz! Die hiesigen Strangemen zeigen ihn denn auch auf dem Cover ihrer letzten LP.

Dann im Institut für AVL (Wen's interessiert: das bedeutet Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, d.korr.) kam aufgeregt jemand herein und erzählte, er habe gerade auf dem Klo gesessen und jemand wäre da kurz darauf ans Pissoir getreten und hätte lange dagestanden und gerade als er, der Berichtende, wieder hinausgehen wollte, wäre ein zweiter gekommen, den er an seiner Stimme erkannt hätte - der Institutsschöngeist - und hätte zum ersten gesagt: Mensch Friedhelm, wenn DEN der Chef sehen würden...

Der nackte Mensch streift die irdische Hülle ab; der nackte Mensch setzt sich in den Zustand des noch nicht bekleideten, vom Leben noch nicht befleckten Kindes, so Altmeister Weinhold in seiner staunenswerten Abhandlung über rituelle Nacktheit (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens).

Tuntengrill, Kreuzberg, Heckmannufer, Hasenheide, Flughafen - und Teufelssee - die Nudisten haben einiges an Stadtraum okkupiert. Jedes Freibad verfügt obendrein über Nacktsonnreservate. Fragt man den Nudisten, was das denn solle, so bekommt man zur Antwort: Zieh dich erstmal aus, bevor du mit mir sprichst und was geht das denn mich an, daß der Teufelssee jedes Jahr umkippt. Freie Fahrt für freie Bürger - auf Sonnenöl will keiner verzichten.

Der heutige nackte Mensch beruft sich auf Natur, Gesundheit und die Schimäre seines streifenlosen Werbekörpers; unten ohne, aber mit T-Shirt, Strümpfen und Schuhen bekleidet, spielt er am Teufelssee Fußball. Auf die Frage nach dem Ziel... erhält man Antworten wie die Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten oder den Reichtum des Lebens. So illegitim die unvermeidliche Frage, so unvermeidlich das Abstoßende, Auftrumpfende der Antwort, welche die Erinnerung an das sozialdemokratische Persönlichkeitsideal vollbärtiger Naturalisten der neunziger Jahre aufruft, die sich ausleben wollten... Die Vorstellung vom fessellosen Tun... der pausbäckigen Unersättlichkeit, der Freiheit als Hochbetrieb zehrt von jenem bürgerlichen Naturbegriff, der von jeher einzig dazu getaugt hat, die gesellschaftliche Gewalt als unabänderliche, als ein Stück gesunder Ewigkeit zu proklamieren. - All das hat, absolut gefaßt, etwas davon, dem anderen, Möglichen, das Licht wegzunehmen in blinder Selbstbehauptung. Das Wuchernde des Gesunden ist als solches immer schon zugleich die Krankheit, so Adorno in seiner Minima Moralia. Adorno spricht denn auch nie von Nacktheit, sondern immer und konsequenterweise von „Nudismus“, um das zwanghaft getriebene dieser Geistesart deutlich zu machen.

Nudisten haben sich verändert. Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre konnte man ihnen als Minorität noch einiges an Sympathie entgegenbringen - sähe „Mein Kampf“ von Lothar Lambert oder die sogenannten Flitzer, die nackt durch die Straßen der Großstädte eilten... und schon war'n sie weg. Anfang der 80er, von München her kommend, breiteten sie sich jedoch aufs Unerträglichste aus. Geliebte Orte wurden unbegehbar gemacht, überall schrie es einen an: ich bin eine Frau, ich bin ein Mann... Der gezielte Angriff hat Erfolge gezeitigt: Areale müssen nicht mehr verteidigt werden, stattdessen verbreitet man/ frau sich flächendeckend.

Im Herzen der Nacktheit jedoch lauert ein Widerspruch; nur der Nackte darf Nackte anschauen - Nackte Mädchen klagen Männer an: Schweine! (BILD) - nackt wird sich ausgezogen, aber Schwänze dürfen nicht angeschaut werden und wenn der Chef den sehen würde, so würde es offensichtlich ein Donnerwetter geben. Die taz vermeldete, daß in Amerika Männer vor den Kadi gezogen werden würden, die Frauen in den Ausschnitt gelugt hätten.

Die Nacktheit basiert auf einer grenzenlosen Verlogenheit, sie veranstaltet einen Naturalismus, um ihn im gleichen Zug zu negieren und gleichzeitig - ex negativo - zuzulassen, daß die, die ebenfalls nackt sind, sich alles schön ankucken können. Das Geschlecht wird zum Auge, der Angezogene wird damit angestarrt und darf nicht zurückschauen.

In uralten Sagen und Legenden kristallisiert sich der Volksglaube aller Zeiten und Nationen, daß auf dem Sehen des Nackten, vor allem der nackten aidoia und überhaupt des Unanständigen, schwere Strafe ruht.

Schande über den Nudismus! Allein die Kreuzberger Autonomen haben richtig seinen systemstabilisierenden Charakter erkannt, der die Freizeit zur Idiotie verkommen läßt. Oder hat schon mal jemand einen nackten Autonomen gesehen?

Der Freund sagte mir, er habe mich mit dem Nacktbadegebot nur anführen wollen.

Detlef Kuhlbrodt