Argentinien: Elf Tote bei der Hungerrevolte

■ Trotz Ausnahmezustand gehen die Plünderungen weiter / Mindestens elf Menschen von der Polizei erschossen / Gewerkschaft fordert Rücktritt Alfonsins

Buenos Aires (afp/wps/ap/dpa/taz) - Die argentinische Metropole Buenos Aires glich am Dienstag abend einem großen, dunklen, unbewohnten Dorf. Kaum noch Neonreklamen an den großen Boulevards und nur selten Tangoklänge aus sonst vollbesetzten Cafes. Angst und Polizisten gingen um. Denn trotz des Ausnahmezustands dauerten die Plünderungen in mindestens elf Städten des Landes auch am Dienstag an. Am Mittwoch herrschte zunächst weitgehend Ruhe im Land. Bei den riots sind bisher mindestens elf Menschen erschossen worden. Zu den schwersten Auseinandersetzungen kam es auch am Dienstag in der Millionenstadt Rosario, wo bislang fünf Menschen den Kugeln der Polizei zum Opfer fielen. Nach den Plünderungen am Montag war dort die Polizei um 2.200 Mann verstärkt worden. Die Ausgangssperre wurde auf 18.00 Uhr Ortszeit vorverlegt. In San Miguel, 20 Kilometer von Buenos Aires, sollen fünf Menschen gestorben sein, als Tausende die Geschäfte ausräumten.

In der Hauptstadt selbst wurde nach amtlichen Angaben ein Busfahrer von unbekannten Zivilpersonen erschossen, der seinen Bus nicht herausrücken wollte. Im Arbeiterviertel Parquefiel griffen einige Ladenbesitzer selbst zu den Waffen, um sich gegen die Plünderer zu wehren. „Wenn sie kommen, bringe ich sie um. Dieser Laden ist mein Leben und das meiner Familie“, rief ein Mann vom Dach seines Ladens. Im Stadtteil Granadero Baigorria drängten etwa 100 Menschen die fünf vor einem Supermarkt postierten Polizisten beiseite und stürmten den Laden. Danach kehrten sie mit Armen voller Fleisch, Käse, Gemüse und Obst zurück. Andere flohen mit Kästen voller Weinflaschen und mit Waschpulverpaketen.

In Argentinien, einem der wichtigsten Getreideexporteure der Welt, einem Land, auf dessen Weiden Millionen erstklassiger Rinder grasen, gibt es erbärmlichen Hunger und Elend. Eine Inflation, die in den letzten zwölf Monaten auf 7.000 Prozent geklettert ist, hat breite Schichten der argentinischen Bevölkerung an den Rand des Existenzminimums geführt. Monatslöhne von 20 Dollar sind die Regel - und dies bei Preisen, die oft mit den europäischen konkurrieren können. In den größten Provinzen des Landes haben die Behörden inzwischen Verpflegungsstellen eingerichtet, wo kostenlos Nahrungsmittel verteilt werden, um die Plünderungen einzudämmen. In Buenos Aires wurden einige Supermärkte amtlich geschlossen, weil sie sich nicht an die staatlich festgesetzten Höchstpreise hielten. Die Regierung verdoppelte den Mindestlohn von 4.000 auf 8.000 Australes. Doch der Fortsetzung auf Seite 2

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neue Lohn wird zum erstenmal Ende Juni ausgezahlt. Wie groß trotzdem der reale Kaufkraftverlust sein wird, entscheidet die Inflation.

Verschiedene Politiker haben die Bevölkerung aufgerufen, sich nicht von „Gruppen professioneller Agitatoren“ mitreißen zu lassen. Der peronistische Oppositionsführer und designierte Präsident, Carlos Menem, warf den „Aufhetzern“ vor, die wirtschaftliche Krise bewußt noch verschlimmern zu wollen. Saul Ubaldini, der Chef der von den Peronisten beherrschten Einheitsgewerkschaft CUT, schloß einen landesweiten Streik für die nächste Zeit aus. Gestern trafen sich Alfonsin und Menem, nachdem im Parlament sowohl die regierende UCR als auch die peronistische Opposition der Verhängung des Ausnahmezustands zugestimmt hatten.

Der mächtigte Dachverband der Gewerkschaften CUT hat nach einer Sitzung den sofortigen Rücktritt von Präsident Alfonsin gefordert, dessen Amstzeit erst am 10. Dezember ausläuft.

thos