Polens Wahlfieberkurve klettert

■ Ein Stimmungsbericht vor den Parlamentswahlen am Sonntag /Aus Warschau Klaus Bachmann

Die KP wirft Solidarnosc vor, sie halte sich nicht an die Abmachungen des runden Tisches, und lokale Solidarnosc -Anhänger verbreiten über einen Kandidaten der Gegenseite einen „Nachruf“.

Ein strahlend blauer Himmel leuchtet an diesem Sonntag morgen über Tschenstochau, als der kleine Solidarnosc-Konvoi von der Tschenstochauer Wahlkampfzentrale in der Stadtmitte aufbricht. Jaroslaw Kapsa, Sejm-Kandidat des Bürgerkomitees (der Wahlorganisation von Solidarnosc), und Andrzej Rozmarynowicz, der sich um ein Senatsmandat bewirbt, führen ihn an. Obwohl eigentlich nur er aus der Gegend stammt, berichtet Kapsa, habe es gegen die Mannschaft des Bürgerkomitees in Tschenstochau keine Widerstände gegeben. Anders als in Danzig, Stettin, Bydqoszcz oder Lodz haben andere oppositionelle Gruppierungen keine Gegenkandidaten aufgestellt.

„Die Opposition in Tschenstochau steht geschlossen hinter uns“, sagt Kapsa selbstbewußt. Viel ist das allerdings nicht, das wird den Wahlkämpfern schon bei der ersten Etappe klar. In Kiniecpol sind dem Aufruf der örtlichen Solidarnosc -Gruppe nur etwas über 100 der immerhin 10.000 Einwohner gefolgt. Gleichzeitig findet am anderen Ende des Ortes ein Fahrradrennen statt. Doch das scheint nicht der einzige Grund zu sein: „Hier gab's die ganzen acht Jahre keine Solidarnosc. Erst jetzt, nach dem runden Tisch, haben die sich organisiert und tun jetzt so, als wären sie schon weiß Gott wie aktiv gewesen die ganze Zeit“, schimpft eine Frau mittleren Alters. „Nicht mal Plakate haben sie geklebt, bis die aus der Stadt hergekommen sind.“

Während Kapsa und Rozmarynowicz in langen Reden ihre Lebensläufe und ihr Programm erklären, verkaufen „die aus der Stadt“ den Bauern und Arbeitern Solidarnosc-Abzeichen und sammeln Spenden. Die Dorfbewohner hören geduldig zu, für manche ist es das erste Mal, daß sie eine solche freie Aussprache erleben. Eine ältere Frau, die an Kapsa eine Frage loswerden will, bricht mitten im Satz vor Aufregung in Tränen aus. „Müssen wir uns jetzt noch vor den Russen fürchten, wo doch der Gorbatschow da ist?“ will ein Bauer von Rozmarynowicz wissen. Und ein anderer nimmt die Veranstaltung zum Anlaß, Kapsa zu fragen, was er zu tun gedenke, um das Dorf mit Traktoren zu versorgen. In der Vergangenheit, so antwortet der, hätten sich die Sejm -Abgeordneten zumeist darauf beschränkt, „ihrem“ Dorf das eine oder andere zuzuschanzen. Jetzt gehe es darum, ein System zu schaffen, in dem das Zuschanzen nicht mehr die einzige Möglichkeit sei, den Bauern zu helfen.

„Manchmal“, erzählt ein Mädchen aus dem Wahlkampftroß, „schickt die Partei ihre Leute in unsere Veranstaltungen, um Rabatz zu machen oder unsere Kandidaten in die Enge zu treiben.“ An diesem Sonntag scheint die örtliche Staatsmacht aber milde gestimmt zu sein. Der Erste Parteisekretär des Ortes sitzt, ein gelbes T-Shirt über den Bierbauch gespannt, in der letzten Reihe und hört geduldig zu. Ein Hilfspolizist, ebenfalls Parteimitglied, kauft ein Solidarnosc-Abzeichen. Nur der Pfarrer geht schon nach einer Stunde, wegen einer Beerdigung, und außerdem, so ist von einer der wenigen örtlichen Solidarnosc-Aktivistinnen zu erfahren, „renoviert er gerade seine Kirche, und da darf er es sich mit den örtlichen Machthabern nicht verderben“.

Die örtlichen Machthaber, das sind außer dem Parteisekretär der Bürgermeister und die 80 Polizisten, deren Macht oft in den kleinen Ortschaften viel unmittelbarer zu spüren ist als in der Großstadt Tschenstochau. Denn in den Dörfern, wo jeder alles über den anderen weiß, braucht die Staatsmacht keine Spitzel, um Bescheid zu wissen. „Die Leute sind eingeschüchtert“, versucht ein Solidarnosc-Mitglied des Ortes die geringe Besucherzahl der Veranstaltung zu erklären. Doch das ist nicht das Hauptproblem für die Opposition. 40 Prozent der Wähler arbeiten auf dem Land, wo keine oppositionelle Wahlkampfzeitung verkauft wird, wo es keine Untergrundzeitschriften, oft nicht einmal Solidarnosc -Plakate gibt.

Vor allem ältere Leute zeigen nur geringes Interesse an der Wahl. Nach 40 Jahren Scheinwahlen ist ihnen nur schwer beizubringen, daß ihre Stimme dieses Mal wirklich etwas bewirken kann. „Wir werfen die Stimmkarten einfach in die Urne, ohne irgendwas daran zu verändern, das wird schon richtig sein“, sagen viele. „Stimmt für Solidarnosc“, hat das lokale Bürgerkomitee in Tschenstochau auf Straßenbahnen und Busse plakatieren lassen. Doch wie man das macht, erklärt den Leuten kaum jemand. Denn auf den Wahlkarten, die die Wähler im Lokal bekommen, wird die Parteizugehörigkeit der Kandidaten nicht angegeben. Um die Kandidaten alle kennenzulernen, ist die Wahlkampfzeit viel zu kurz.

Das erfahren auch die Leute in Koniecpol: Als eine Frau fragt, wie man die Stimmzettel ausfüllen soll, ist es schon später Nachmittag und der Wahlkampftroß muß weiter zur nächsten Station. Bei der Weiterfahrt begegnen den Wahlkämpfern nur vereinzelt Solidarnosc-Plakate - und wenn, dann sind sie oft zerrissen. Als der große Wagen Rozmarynowicz‘ an der Ortsausfahrt um die Ecke biegt, lassen einige Bauern hastig von der Wahlversammlung mitgebrachte Solidarnosc-Plakate unter den Jacken verschwinden.

„In Tschenstochau haben wir Ruhe, da reißen sie uns nicht einmal mehr die Plakate ab“, erzählt Kapsa, „auf dem Land aber weiß man nie genau, was passieren wird.“ In Koniecpol besuchen Geheimpolizisten die Bewohner am Arbeitsplatz und warnen sie davor, sich mit Solidarnosc einzulassen.

Oft bildet nur der Pfarrer ein Gegengewicht zur örtlichen Staatsmacht. „Viele Pfarrer stellen uns ihre Kirche zur Verfügung, sie treten auch auf die Kanzel und 'predigen‘ für unsere Kandidaten“, grinst Kapsa. In Pajeczno hält der Pfarrer die Politik aus der Messe heraus, aber er hat es zugelassen, daß seine Kirche von außen mit Solidarnosc -Plakaten zugepflastert wurde. Der Einfluß der Pfarrer dürfte meist sogar größer sein als die Wirkung der Wahlveranstaltungen. Nicht nur, weil die Gegend um Tschenstochau tief katholisch ist; auch, weil Kapsa und Rozmarynowicz von den Problemen der Landwirtschaft und der Dorfbewohner nur wenig verstehen. Wenn ein einfacher Bauer den Toyota des Krakauer Rechtsanwalts aus dem Dorf rollen sieht, mag sich ihm der Eindruck aufdrängen, er habe gerade wieder den jüngsten Funktionärsbesuch erlebt. An Wahlkampfspenden haben „die aus der Stadt“ in Koniecpol jedenfalls nur 7.000 Zloty - so etwa 5 Mark - eingenommen.