Wahlkampf in den Städten

Der Stettiner Eisenbahner Wojciech K. hat alles, was ein Sejm-Kandidat der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) braucht: weit über 3.000 Unterstützerunterschriften, eine makellose politische Vergangenheit, den Rückhalt der Stettiner Eisenbahner und die richtige Einstellung auch für Reform und Pluralismus. Er rechnete sich gute Chancen aus, auf dem Wahlkonvent der Partei, der die Kandidaten aufstellt, nominiert zu werden. Seine Kandidatur hatte nur einen Fehler: Die über 3.000 Unterschriften waren von der Solidarnosc gesammelt worden, und K. war nicht nur Mitglied der PVAP, sondern auch gleichzeitig von Solidarnosc.

In Flugblättern rief die Gewerkschaft dazu auf, „alle Kandidaten der Partei bei der Wahl durchzustreichen. Mit Ausnahme von K.“. Auf der anderen Seite ruft Lech Walesa dazu auf, keine Solidarnosc-Kandidaten von den Listen zu streichen. Befolgen das die Wähler am 4. Juni, könnte dies für einige Prominente der Partei unangenehme Folgen haben.

Wie nämlich ausgerechnet die Parteizeitung 'Zycie Warszawy‘ enthüllte, bleiben Plätze auf den sogenannten „Landeslisten“ unbesetzt, wenn mindestens 58 Prozent der Wähler den Kandidaten gestrichen haben. Auf dieser Liste kandidieren 35 Pominente aus Partei und Regierung ohne Gegenkandidaten. Regierungssprecher Rykowski fand den Aufruf, denen einen Strich durch die Rechnung zu machen, denn auch äußerst beunruhigend. Man habe schließlich, so erklärte er, am runden Tisch „Konkurrenz-“, aber keine „Konfrontationswahlen“ vereinbart.

Was allerdings der Unterschied zwischen beiden sein soll, hat niemand in Polen je definiert. Jerzy Marja Majka, Chefredakteur von 'Trybuna Ludu‘ und Vertreter der harten Linie in der Partei, befand dennoch in einem Rundumschlag gegen die Opposition, nur die Partei habe sich bisher an die Abmachungen des runden Tisches gehalten, die Opposition ziele dagegen permanent unter die Gürtellinie. Ihr warf er antisowjetische Stimmungsmache vor und er erhob die Anschuldigung, sie werde von amerikanischen Geldgebern ausgehalten.

Schlagabtausch zwischen

Partei und Gewerkschaft

Noch einen Schritt weiter war Majkas Blatt in der Vorwoche gegangen. Nachdem die Wahlkampfzeitung des Bürgerkomitees der Wahlorganisation von Solidarnosc - von einer „Brückenrolle“ Schlesiens zwischen Deutschen und Polen geschrieben hatte, kam sofort der Vorwurf, Solidarnosc vertrete die Interessen westdeutscher Vertriebenenverbände.

So vergeht kaum ein Tag, an dem sich Partei und Bürgerkomitee nicht einen heftigen verbalen Schlagabtausch liefern. Nicht immer bleibt es bei Worten: So schlachten die Parteimedien schon tagelang jene gewalttätigen Auseinandersetzungen in Krakau aus, die radikale Splittergruppen sich vor dem dortigen sowjetischen Konsulat mit der Polizei lieferten - obwohl sich das Krakauer Bürgerkomitee bereits davon distanziert hatte. Für Jerzy Majka willkommene Gelegenheit, die „Russen geht heim„-Rufe einiger Dutzend Jugendlicher gleich der ganzen Opposition in die Schuhe zu schieben.

Zwischentöne haben in diesem Szenario kein Platz. Auch nicht innerhalb der Opposition. Zwar hat Lech Walesa mittlerweile dazu aufgerufen, den Slogan „alle Kandidaten streichen außer unseren“ zu ersetzen durch „alle vernünftigen wählen, egal woher sie kommen“, doch hat dies unter seinen Anhängern kaum ein Echo gefunden. Auf einer Pressekonferenz in Warschau mutmaßte ein Solidarnosc -Sprecher gar, die Äußerung sei Walesa von der polnischen Nachrichtenagentur 'pap‘ untergeschoben worden.

In Rzeszow leistete sich das Bürgerkomitee einen makabren Scherz gegenüber einem Gegenkandidaten. Solidarnosc-Anhänger verbreiteten Plakate mit einem Nachruf auf einen Kandidaten der Gegenseite. Nach zwei Tagen stellte ihre Wahlkampfzeitung dann selbst fest: „Der Kandidat erfreut sich bester Gesundheit.“ Nicht das beste Verhältnis hat das Bürgerkomitee auch zu anderen Konkurrenten, die aus der Opposition, zum Teil sogar aus der Gewerkschaft selbst kommen.

Obwohl das Bürgerkomitee nicht mit der Gewerkschaft Solidarnosc identisch ist und auch längst nicht das ganze politische Spektrum der Opposition widerspiegelt, sprechen Lech Walesas Wahlkämpfer Mitbewerbern von außerhalb des Komitees die Berechtigung ab, unter der Bezeichnung Solidarnosc anzutreten; so etwa die Gruppe radikaler Walesa -Gegner um Andrzej Gwiazda, Marian Jurczyk und Jan Rulewski. In einigen Städten haben Walesas Gegner eigene Kandidaten aufgestellt. In Stettin, so geben selbst der Kommunistischen Partei nahestehende Journalisten zu, haben die sogar gute Chancen, das Rennen zu machen. Denn gerade in den dortigen Großbetrieben, der Stettiner Werft und den Hafenanlagen, hat Marian Jurczyk mehr Unterstützung in der Arbeiterschaft als der von Walesa protegierte Anwalt Andrzej Milczanowski.

In Stettin streitet sich nicht nur die Opposition. Um Solidarnosc in nichts nachzustehen, beschloß dort auch die Regierungspartei, erstmals Konvente mit gewählten Delegierten abzuhalten, die die KP-Kandidaten dann nominieren sollen. Für zwei Plätze gab es 16 Bewerber. „Die Diskussion verlief so stürmisch“, erzählt ein Delegierter, „daß der erste Sekretär Mieskiewicz mehrmals bitten mußte, doch die Einheit und das Ansehen der Partei nicht aufs Spiel zu setzen.“ Die Genossen stritten bis in die tiefe Nacht und vertagten sich dann.

Nicht alle fanden das in Ordnung: denn während draußen Solidarnosc mit Plakaten und Kandidaten buchstäblich das Stadtbild beherrschte, wußte die Partei immer noch nicht, wer eigentlich ihr Kandidat sein sollte. In der Zwischenzeit befaßte sich ihre Kontrollkommission mit einem Kandidaten näher: Wojciech Karkuczynski, der sowohl für Solidarnosc als auch für die Partei antreten wollte. Ihm wurde deshalb ein Verstoß gegen die Parteidisziplin vorgeworfen. Abweichungen von der Parteilinie konnten ihm nicht nachgewiesen werden. Karkuczynski: „Mein Programm ist identisch mit den Ergebnissen des runden Tisches.“ Manchem in den oberen Stockwerken des Wojewodschaftskomitees dürfte allerdings die Absicht des Eisenbahners, „im Sejm mit dem Parteibeton und den Reformgegnern aufzuräumen“, ketzerisch erschienen sein.

Stettins Parteichef Miskiewicz, dem selbst Sympathien für Anhänger der alten Linie nachgesagt werden, soll denn auch ganz andere Favoriten haben als den aufmüpfigen Eisenbahner. Anderswo hätte man diesen vielleicht als „Symbol für die Verständigung und die Offenheit der Partei“ zum Kandidaten gekürt, eingedenk der eigenen Beteuerungen, daß es doch auf beiden Seiten gute Leute gebe.

Nicht so in Stettin: Drei Stunden vor der entscheidenden Sitzung des Konvents, auf der sich Karkuczynski gute Chancen ausrechnete, wurde der Eisenbahner ein drittes Mal vor die Kontrollkommission zitiert. „Man teilte mir mit, daß ich mit sofortiger Wirkung aus der Partei ausgeschlossen bin.“ Als er sich dann zum Konvent aufmachte, ließen ihn die Türwächter schon nicht mehr durch.