Vespro del Signor Rilling

■ Monteverdis „Marienvesper 1610“ - Ein Kunstwerk der alten Musik mit romantischem Schönklang

Ein „H. Rilling-Konzert“, so verkündet die Eintrittskarte, findet da am 3. Juni im Dom statt. Wenn der Bundesdeutsche Nationalkantor seine Gächinger Kantorei antreten läßt, ist es offenbar eine Nebensache, was gesungen und gespielt wird. Nicht ganz zu Unrecht, den es ist nicht Rillings Sache, mit den Ansätzen der historischen Musikpraxis zu versuchen, die unverwechselbare Klanglichkeit eines Werkes mit den Mitteln seiner Entstehungszeit wiederherzustellen. Ob - wie diesesmal - Monteverdis Marienvesper auf dem Programm steht oder eine Bachkantate, Stücke also, zwischen denen immerhin fast 150 Jahre liegen, die Besetzung ist die gleiche: Ein mit modernen Instrumenten spielendes Kammerorchester und ein recht großer Chor. Der allerdings ist exzellent. Wer sich am romantischen Klangbild nicht stört, wem es als Frage von untergeordneter Bedeutung erscheint, ob der spröde, trompetenartige Klang der alten Zinken durch den legato -Schmelz einer Oboe ersetzt wird, der wird hier sicher gut bedient. Schon die Besetzung mit einem Chor ist eigentlich ein Verstoß gegen den Geist von Monteverdis Musik von 1610. Ihre großen mehrstimmi

gen Vokalensembles waren für solistische Besetzungen konzipiert. Wer sich ein Gegenbeispiel anhören möchte: die eindrucksvollste Platteneinspielung der Vesper mit den Mitteln, über die die historische Musikpraxis mittlerweile verfügt, ist die von Andrew Parrot bei „Reflexe“ (EMI) veröffentlichte. Für den Prozess der Erarbeitung dieser Mittel hatte gerade die Marienvesper eine herausragende Bedeutung. Die Einspielung von Jürgen Jürgens und Nikolaus Harnoncourt von 1967 war ein Markstein in der Entwicklung der historischen Aufführungspraxis. Handgreiflich machte sie klar, daß zum Beispiel die sich reibenden Dissonanzen im „Duo Seraphim“ nur dann zu verstehen sind, wenn sie praktisch ohne Vibrato gesungen werden. Ich bin gespannt darauf, wie hier Rillings Gesangssolisten einen Weg zwischen romantischem Schönklang und den Anforderungen der alten Musik finden werden. Der Eintritt ist nicht gerade niedrig: DM 30. -, ermäßigt 25. -. Trotzdem genügt die zu erwartende Einnahme-bei mit Sicherheit voller Kirche überschlagsmäßig um die 60. 000. - DM - anscheinend nicht, um die Kosten zu decken. Und so wird

das Konzert den BremerInnen von Daimler-Benz beschert, so findet das Bremer Konzertleben allmählich und verspätet den Anschluß an die fortgeschrittensten Entwicklungen des Musikbetriebs. (Eine neue Runde wird in der nächsten Woche eingeläutet: Arturo Benedetti Micheangelis Auftritt am 7. 6. wurde auch nur durch Initiative und Geld privater Sponsoren ermöglicht. ) Rilling hat Monteverdi eines voraus: Er sonnt sich zur Zeit in der Gunst seines baden-württembergischen Landesfürsten, während Monteverdi in Mantua schon einen schlechteren Stand hatte. Seit 20 Jahren dort in Diensten, seit 1601 als „maestro de la camera et de la chiesa sopra la musica“, unternahm er mit dem Druck der Vesper von 1610 wieder eimal einen Versuch, dem aufreibenden und ungeliebten Hofdienst zu entkommen. Gemeinsam mit dem berühmten Stück erschien eine heute weitgehend unbekannte Messe, die Monteverdi im Titel viel größer herausstellte. Kein Wunder: Mit beiden Stücken im Gepäck reiste er nach Rom, sicher um sich dort für eine Anstellung ins Gespräch zu bringen. Die Messe zeigt ihn als gewieften Kontrapunktexperten, der in al

len Möglichkeiten der traditionellen Musiksprache des 16. Jahrhunderts zu Hause ist, die Vesper als jemanden, dem auch die umstürzlerischsten Veränderungen der aktuellen Musikszene vertraut sind. Für Nordlichter, denen auch der „Name der Rose“ nicht genau bekannt ist, sei erklärt, daß es sich bei der Vesper nicht um eine bayrische Brotzeit handelt, sondern um eines der Stundengebete der katholischen Kirche. Was bei diesem abendlichen Gebet gesungen und gesprochen wird, ist durch die feste Liturgie genauestens geregelt: Den Hauptanteil bildet die Aufführung von fünf Psalmen, die jeweils von Antiphonen eingerahmt werden, und der Text des Magnificat. Monteverdis Musik enthält die Psalmen und das Magnificat, darüberhinaus aber noch weitere Stücke, solistische oder klein besetzte geistliche Konzerte. Das gab Anlaß zu der Vermutung, der Druck von 1610 biete gar keine Vesper, sondern eine lockere Anthologie von geistlicher Musik. Durchgesezt hat sich aber die Ansicht, die geistlichen Konzerte seien als möglicher Ersatz der auf die Psalmen folgenden Antiphonen gedacht. Antiphonen selbst bietet Monteverdi nicht. Und hier fängt jetzt eine unglaubliche Aktivität von Musikwissenschaftlern und Musikern an: Sie versuchen meist, die fehlenden Stücke aus der Praxis des gregorianischen Gesangs zu Monteverdis Zeit zu rekonstruieren. Solche einstimmigen gregorianischen Gesänge werden dann zwischen die Sätze Monteverdis eingefügt. Damit wird die Vesper in ihren liturgischen Rahmen eingebettet. Das

Erstaunliche an diesem Verfahren ist, daß wir bei geistlicher Musik der Vergangenheit üblicherweise längst aufgehört haben, sie als funktionale Musik des Gottesdienstes wahrzunehmen. Erst wenn das Interesse an der Musik als Kunstwerk überwiegt, ist es möglich, von einer Messe nur die komponierten Sätze des Ordinariums anzuhören -obwohl sie gerade die Hälfte des Textes der jeweiligen Liturgie ausmachen. Wer Bach-Kantaten auf Schallplatte anhört, löst sie als Kunstmusik aus ihrem Bezug zum Ablauf des Gottesdienstes. Weil diese Veränderung der Haltung zur religiösen Kunst so umfassend gewirkt hat, ist es um so ungewöhnlicher, daß Monteverdis Vesper mit so zähem Ehrgeiz in den liturgischen Bezug versetzt werden soll. Warum nicht sie als eine Zusammenstellung von spannender Musik hören? Monteverdi jedenfalls plante sie bewußt auch als Kunstwerk. Unverkennbar ist das Bestreben zu zeigen, was er in den neuen Stilen leisten kann. Das zehnstimmige „Nisi Dominus“ breitet riesige Gesangsflächen im Stile von Giovanni Gabrieli aus. Das „Duo Seraphim“ zeigt Monteverdi als Meister der ausgeschriebenen Gesangsimprovisation von äußerster Virtuosität. Und in der „Sonata sopra Sancta Maria“ führt er vor, daß er auch in der modernen Instrumentalmusik an den aktuellsten Tendenzen teilnimmt. Das umfassende Großwerk präsentiert sich als ein Panorama der stilistischen Möglichkeiten.

Axel Weidenfeld

Samstag, 3.6., 20 Uhr,

St.-Petri-Dom