VIERTAKTER EINSPRITZER

■ Memoiren eines Strichers aus besserem Hause

Nachts bei Bilka um die Ecke: Tunnelbogen, Seitenstraße. Hauptsache ohne Lust, aber mit gutem Grund. „Schwul?“, fragt der eine, lehnt sich in die Mauernische und zieht an der Zigarette. „Scheiß Bahnhof“, sagt der andere und „zuhause...“ und „Freundin...“ und „eben alles Scheiße“. „Klar, Scheiße!“ sagt der erste, läßt seine Kippe fallen und „ist ja auch egal“. Weiter unten steht wieder der blonde Germanistikstudent und wartet immer noch auf Thomas Mann. Der ist auch nicht schwul, aber für die Literatur macht der alles. Auch mal umsonst.

Gleisarkadien. Zwei Scheinwerfer quälen sich langsam um die Ecke, der Fahrer stiert abwesend in die Tiefe der Sackgasse. Eine imaginäre Ampel schaltet auf Rot, der Wagen hält und die Beifahrertür wird einen Spalt geöffnet, ein Hund springt raus und pißt brav gegen die backsteinernen Vorwände. Zeit genug für ein paar unverbindliche Worte. „Was machst du denn so alles“, fragt der Fahrer und starrt weiter geradeaus. Jetzt alles sagen, denkt der eine, alles ist alles und nichts, sagt „Alles“ und steigt ein. „Alles Schonbezüge“, sagt der Fahrer und deutet nach hinten zum Rücksitz, „den ganzen Tag Schonbezüge verkauft. Echt Fell. Nicht billig.“ „Zwanzig Mark“, sagt der eine, und ein paar hundert Meter weiter auf dem Parkplatz spritzt der Vertreter sein Nyltesthemd voll und denkt dabei hemmungslos an alles. Schonbezüge denkt der eine, während er sich die Hand abwischt, echt Fell. Er steckt den Fünfzigmarkschein weg. Dreißig Mark mehr, als Schweigegeld für den kleinen Schwanz. „Neunzig PS“, sagt der Fahrer und gibt zur Entschuldigung Gas, „Viertakter Einspritzer. Ich fahr dich noch zurück, ich muß ja auch meinen Hund wieder abholen.“ „Der Hund“, sagt der eine verständnisvoll, „klar, der Hund.“

Der andere ist jetzt nicht mehr da, wahrscheinlich doch „zuhause“ oder „Freundin“, wenn er Glück gehabt hat auch „eben alles Scheiße“. Dafür macht jetzt ein Abstauber auf Streetworker, hat was zu Essen zu Hause und ein Bett frei. Scheißkalt eben. Sein Alibipinscher zerrt an der Leine. 'N Kick wär auch noch drin. Astreiner Stoff direkt vom Sozialarbeiter, reicht grad für zwei. „Ich steh nich auf Nadel“, sagt der eine, „wieso bis'n dann hier?“ Der eine weiß auch nicht richtig, „bist wohl schwul, wa?!“ „Nee“, sagt der eine, „zuhause...“ und „Freundin...“ und „eben alles Scheiße“. „Scheiße!“, schreit es hinten an der Ecke, der Student springt aus einem Ascona, tritt gegen die Kotflügel und brüllt was von Orgasmus zum Subkriptionspreis, von Gratiswichser und Konsalikschwein. Und dann kommt auch der andere wieder angeschlendert, hat in einer halben Stunde dreihundert Eier gemacht, sagt er, kommt bloß zurück, weil er den Schlüssel vergessen hat, „mein Alter schlägt mich tot, wenn ich jetzt noch klingel‘. Scheiß zuhause...“ Das war das letzte Mal. Ab morgen machen alle was ganz anderes: mit der Freundin ins Linientreu gehen, im Delphi Visconti gucken, und der Vertreter wirft Judy Winter Blumen auf die Bühne des Renaissance-Theaters. Is ja alles bloß um die Ecke.

Rainer Maria Bilka