Versuche es doch einfach mal mit einem Tagebuch-betr.: "Riskante Wiederaufbereitung", taz vom 20.5.89

Betr.: „Riskante Wiederaufbereitung“, taz vom 20.5.89

Euer Jungkulturkritiker ist ja sicher ein netter Bursche mit einem „flotten Rennrad“, an dem er viele Gänge rauf- und runterschalten kann, wenn eine qualvolle Aufgabe, nämlich die Besprechung zweier Musikveranstaltungen auf dem Tagesplan steht, der auch schon mal erst nach der Pause auftaucht, weil ja so tolles Wetter ist und er sich lieber im nahegelegenen Biergarten die Dröhnung gibt, und weil er von Musik sowieso nicht soviel versteht und deshalb erst mal zwei Spalten lang beschreibt, was er am Kreuzberg mit seinem flotten Rennrad so alles erlebt hat, und weil ihm der Spielort, das BKA im Zwinger, eh nicht so gut gefällt und weil so ein „fauler Sommerabend“ ist, an dem er viel lieber mit seinem flotten Rennrad ausfahren würde.

Ja, wen wundert's da, daß Andreas nicht mal über die wirklich witzige Show der „Sophisticrats“ lachen mag. Liebe taz, schickt Euren Andreas das nächste Mal doch besser zum Sechs-Tage-Rennen, er wird begeistert sein...

Burkard Raab, Berlin-Mitte

(...) Die „Sophisticrats“ haben mir sehr gut gefallen. Ihre Show und ihre Musikalität sind beeindruckend. Daß du weder ihren Humor verstanden hast noch ihre Musik einschätzen konntest, lag bestimmt daran, daß du erst in der Pause gekommen bist, und vielleicht etwas zu lange im Golgatha gesessen hast. (...)

Christoph Swoboda

Andreas, ich verwahre mich als freier Journalist mit aller Entschiedenheit dagegen, daß du dich als „unsereinen“ wagst zu bezeichnen.

Falls du weiterhin „schreiben“ möchtest, dann versuche es doch einfach mal mit einem Tagebuch. So ein Tagebuch ist ein wertvoller Begleiter in guten und schlechten Tagen und ist sicher dankbarer für deine persönlichen Zustandsbeschreibungen an heißen Sommertage als so mancheR LeserIn der taz. Schade um das Zeilenhonorar, um deine Haltung zur Kulturberichterstattung und vor allem um vier vergeudete wertvolle Spalten.

Viel Spaß beim Tagebuchschreiben, aber versuch bitte nicht, es jemals zu veröffentlichen...

Rolf Loose, Berlin 61

(...) Es ist ärgerlich, daß du deine Öffentlichkeitsarbeit derart mißbrauchst und der/die LeserIn dein privates Stimmungsbarometer ertragen muß. Das Ganze auch noch auf Kosten einer so guten Musikgruppe, die du unter musikalischen Aspekten nur in drei Standardlitaneien erwähnt hast. (...)

Lieber Andreas, Recht hast du: Dilettantismus wird zur Tugend, öffentlich exhibitioniert und verkauft als Selbstverwirklichung. Wie wär's mit einer Umschulung?

Karina Koppenhöfer, Berlin 19

(...) Den Schulaufsatz von Andreas Becker über seinen Nachmittag auf dem Kreuzberg hättet Ihr uns ersparen können. Drei ganze Zeilen handeln von den „Sophisticrats“ und ihrer Musik. Drei Spalten Gesülze über die innere Befindlichkeit Eures Reporters. Was ist das für eine Berufsauffassung, wenn ein Kritiker erst in die zweite Hälfte einer Veranstaltung taumelt. Dann soll er sein Maul halten! (...)

Dr.Werner Bäuerle

(...) Was Andreas Becker da abläßt, ist gelinde gesagt, eine Unverschämtheit. Er bringt es tatsächlich fertig, diese ausgebuffte, mit aberwitzigen Arrangements gespickte Show, diese vier Frauen und ein Bass, die da schwierigste Gesangsparts souverän hinlegen, und ihre auf Understatement aufgebauten Nummern sind zudem urkomisch, dieser Becker bringt es fertig, sie mit jenen im Park jonglierenden Freizeitkünstlern zu vergleichen. (...) Becker beschreibt nicht, um was es geht, noch begründet er irgendwie seine Abneigung gegen die „Schwyzer„; er findet einfach alles blöd.

Ich bin weder verwandt noch verschwägert mit den „Sophisticrats“. Und Andreas Becker darf auch ruhig anderer Meinung sein. Er darf Verrisse schreiben, soviel er will, je treffender desto besser. Doch mit diesem Artikel erweist sich Andreas Becker als ein fahrlässiger Stümper, und da ist er unter den KritikerInnen, die in Berlin auf Off-Theater losgelassen werden, leider kein Einzelfall. (...)

(...) Das wenigste, was man nun von einem/r KritikerIn verlangen kann, ist doch, daß er/sie sich die Veranstaltung in voller Länge angeschaut hat. Das ist jedoch keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Nicht wenige der gestreßten RezensentInnen neigen zu der laxen Auffassung, nach fünf Minuten wüßten sie sowieso, wo der Hase langläuft, und verlassen die Aufführung mit dem/r FotografIn. (...)

Ich bin es zudem leid, mir spaltenweise die U-Bahn- und Fahrradfahrten dieser verhinderten LiteratInnen, ihren Bier und Bratwurstkonsum sowie ihre engere „Befindlichkeit“ vor und nach der Vorstellung antun zu müssen, wenn ich etwas über eine Theater- oder Musikveranstaltung erfahren will. Und wenn sich dann noch, wie im Fall Andreas Becker, eine allgemeine Unzufriedenheit über den Zustand des Theaters hinzugesellt, dann wimmelt es plötzlich von Ausdrücken wie „Dilettantismus“, „Professionalität“, „Tiefgang“ oder „Niveau“. Die Kategorien, mit denen sie messen, haben sie dabei direkt aus der gymnasialen Oberstufe übernommen, haben aber ziemlich wenig mit der gegenwärtigen Theater- und Musikszene zu tun. (...)

Ich verlange von einem/r KritikerIn, daß er/sie das Dargebotene einschätzen kann, es zunächst mißt an dem was es selbst sein will, und daß er/sie weiß, was sonst noch Vergleichbares in dieser Sparte geboten wird. Ich verlange, daß er/sie in etwa die Produktionsbedingungen kennt, die Premiere einer freien Gruppe ist einfach anders zu sehen als die einer großen Bühne. Ich verlange, daß er/sie Schwachpunkte wie Stärken erkennt und benennt. Doch dazu gehört viel Sachverstand, Überblick über die Szene und eine vom eigenen Bauchnabel unabhängige Urteilskraft. (...)

Thomas Pigor, Berlin 36 An unsere LeserInnen

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