VON FOTOGRAFIEN

 ■  Paradigma: Anschnitt

Mit einem Staatsakt in Frankreich begann vor 150 Jahren die Geschichte der populären Fotografie.

Die Malerei ist, mit starken Schwankungen, bis heute ein Akt der Repräsentation geblieben: um das, was zusammen soll, schließt sich der Rahmen. Der Konflikt des zeichnenden Künstlers mit dem weißen Blatt Papier geht immer noch um dessen Zentrum; was dort entsteht, stößt dann wortwörtlich an seine Grenzen. Die Zeichnung, auch das gemalte Bild, trägt sich oder zerfällt in der Spannung zwischen Zentrum und Peripherie.

Die Fotografie denkt erstmals den Rahmen als zumindest potentiell wirklich leeren. Der Blick durch den Sucher (oder früher: auf der Mattscheibe der Camera obscura) „degradiert“ die Welt der Gegenstände zum „Motiv“. Wie auch zwingende Formen ihre Selbstverständlichkeit (ihre Macht der Repräsentation) verlieren, illustriert eines der frühen Reisebilder, das eine Pyramide im Anschnitt zeigt.

Der Anschnitt ist auch das Paradigma, mit dem die Fotografie ihre evolutionäre Kraft in der Kunst entfaltet. Das hat Collard, einer der frühen Berufsfotografen (in Paris, Atelier: 39, boulevard de Strasbourg), begriffen. Wenn er sich für die Brücke interessiert, dann nicht gleichzeitig von der Seite, von oben und im Querschnitt, für die Brücke als solche, sondern von unten, basta. Plaziert (worauf, das soll uns mal egal sein) fast genau unter dem zweiten von neun Stahlträgern, erfaßt er sowohl die vertikale wie die horizontale Konstruktion jeweils als Flucht. Die Zwischenräume, deren Tiefe (nach oben, zu den Ziegelsteinen hin) auch deutlich wird, erscheinen als Binnenräume: Zimmer. Weil wir die Dimension eines Zwischenraumes („Zimmers“) einsehen können, ahnen wir dann in der Flucht die Monumentalität der Konstruktion. Oben im Bild, wo wir die Tiefe der Konstruktion einsehen können, ist unser Körper noch Maßstab. In der Flucht erkennen wir, wie dieser (rein imaginäre) Maßstab seine Gültigkeit verliert.

Was Collard hinter sich läßt, ist der Mythos der Brücke, die ganze Geschichte von den Ufern und vom Wasser. Die Seine (ich denke mal, es sei die Seine) benutzt der Fotograf als Spiegel, der ihm das kühl-klare Licht in die ansonsten wohl eher düstere Konstruktion wirft. Das Wasser ist ihm nur noch eine Fläche, die die Flucht in der Tiefe des Bildes abstützt. Der Schatten der Brücke im Fluß, der schwarze Block am unteren Bildrand, verstärkt den Stützeffekt.

Man könnte den Fotografen sehen als Imago-Lieferanten industriell-expansiver Phantasien. Die Fotografen waren es ja und sind es heute noch (die vielen New-York-Bilder beweisen es), die uns versöhnen mit dem Abenteuer unserer Entmachtung. Und doch gibt es in diesem Bild von Collard einen subtil geäußerten Verdacht. Denn die Flucht der Stahlkonstruktion fliegt (quasi von der Tiefe des Bildes her gesehen) den Betrachter an und drückt ihn nieder.

Das tun die Wolkenkratzer und Industriebau-Fotografien, wie es sie seit den zwanziger Jahren gibt - mit ihrem Hang zur Mythisierung der Diagonale -, nicht. Aber auf sie braucht man nicht zu warten, um zu sehen, wie das kokette Spiel mit dem „Fortschritt“ aussehen könnte: man braucht dieses Bild nur umzudrehen.

Ulf Erdmann Ziegler

Collard, ohne Titel, 1863. Aus: 'camera‘, Luzern, 2/1974