Die Seele fest im Griff

■ Die Ausstellung „Wunderblock“ in Wien - ein großer Versuch, die Seele sichtbar zu machen

Die neuzeitliche Philosophie setzt ein mit Descartes‘ Unterscheidung von Res extensa, ausgedehntem Ding, und Res cogitans, denkendem Ding. Anders als in der scholastisch -aristotelischen Tradition, die die Seele als Bewegungsgrund des Körpers kennt, trennt jetzt eine scharfe Kluft die Körper von der Seele. Nun lassen sich ausgedehnte Dinge, Dinge, die Raum beanspruchen, ohne Schwierigkeiten lokalisieren, darstellen und abbilden. Aber wie kommt die Res cogitans, die ja unkörperlich ist, zur Darstellung? Diese Frage beantwortet die Ausstellung Wunderblock in Wien. Die Geschichte der Seele im 19.Jahrhundert liest sich dort als ein großer Versuch, die Seele sichtbar zu machen.

Ausdruck und Information sind die beiden Pole dieses Versuchs. Die wissenschaftliche Information ist das Ergebnis von streng definierten Schnitten, in denen vorgängig Unsichtbares sicht- und meßbar werden soll. In dieser Perspektive ist die Geschichte der Seele eine Geschichte von Apparaten, eine „Geschichte all der Prothesen, die sich der Mensch gegeben hat, um seine Seele einzukreisen“ (Jean Clair). Zu diesen Apparaten zählt die Couch Freuds ebenso wie die Schädelmeßgeräte des 19.Jahrhunderts. Am Leitfaden des Apparates entwickelt die Ausstellung eine wahrhaft historisch-materialistische Geschichtsschreibung, deren Tenor vom Objekt selbst vorgegeben wird. Das Credo der Physiologie, im 19.Jahrhundert Leitwissenschaft der Seele, wird von Emil du Bois-Reymond (1818-96) auf die Formel gebracht, daß „im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind, als die gemeinen physikalisch-chemischen“.

Die Seele wird als energetisches Modell gefaßt: Kräfte und Bahnen sind seine Elemente. Das hatte sich bei Mesmers Versuchen zum tierischen Magnetismus angekündigt. Ausgeschlossen werden theologische und metaphysische Erklärungsmöglichkeiten. Die Seele als ganz und gar diesseitiges Phänomen wird einem Prozeß der Lokalisierung unterworfen. „Das Organ der Seele“ zu bestimmen, nimmt sich die Hirnforschung vor, daß im Hirn gesucht werden muß, steht außer Frage. Ein kartographischer Wahn breitet sich unter den Medizinern aus. Was mit der bizarren Phrenologie Galls beginnt, wird durch Paul Brocas Entdeckung des Sprachzentrums im Jahre 1861 zementiert: Bestimmte Regionen des Gehirns können bestimmten somato-psychischen Funktionen zugeordnet werden. Die Geschichte dieser Lokalisationen ist eine Geschichte der Störung und Zerstörung. Spezielle sichtbare Defekte des Gehirns werden speziellen psychischen aber auch somatischen Defekten zugeordnet, aus den Defekten wird auf die Lokalisation der Funktion zurückgeschlossen. Wie so oft, ist auch für diese Wissenschaft der Krieg der Vater aller Dinge: Saubere Einschüsse erzeugen saubere Ausfallserscheinungen, und für die Mediziner fällt Weihnachten, das Fest der Geschenke, immer auf den Krieg.

Der Fortschritt der Hirnforschung dokumentiert sich in der Analyse der Architektonik der Nervenfasern. Ihre Bedingung sind verbesserte Mikroskope, Apparate, die feinste Gehirnschnitte ermöglichen, und neuartige Färbetechniken, die den Aufbau der Nervenfasern sichtbar machen. Das Erkannte ist ein Effekt der Apparatur. Die Apparatur, das demonstriert die Ausstellung, ist selbst das Subjekt der Geschichte der modernen Seele. Die Antwort der Seele aber ist immer nur das getreue Echo auf das Kommando der Apparatur. Als psychische Funktion kann die Maschine nur maschinenartiges Verhalten sichtbar machen. Dieser Materialismus macht den Ausschluß von Sinn zu seiner Bedingung. Der Sinn erscheint als Störfaktor im Experiment, dem die Seele unterworfen wird; so hat es sich zum Beispiel die Gedächtnisforschung zum Ziel gemacht, alle Bedeutung, die die reine Gedächtnisleistung verunstalten würde, zu eliminieren. Ihre Versuchsobjekte werden deshalb mit sinnlosen, zufälligen Silben gespeist, an die sie sich zu erinnern haben.

Der berühmte Psychiater und Hirnforscher Paul Flechsig (1847-1929), der den noch größeren Daniel Paul Schreber in Behandlung hatte, schreibt: „Die Medicin tritt durch die Erforschung der materiellen Bedingungen der Geistestätigkeit in unmittelbare Beziehung zu den moralischen Wissenschaften.“ In deren Nähe hat sich die Physiognomik immer schon bewegt. Ihr ist die Gestalt von Kopf und Körper die Erscheinungsweise des Geistes. Vom Schattenriß des Kopfes schließt Lavater „zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ auf den Charakter. Goethe, der für kurze Zeit mit Lavater gearbeitet hat, kam es jedoch „als eine gewisse Tücke, als ein gewisses Spionieren vor, wenn ich einen gegenwärtigen Menschen in seine Elemente zerlegen und seinen sittlichen Eigenschaften dadurch auf die Spur kommen wollte. Lieber hielt ich es mit einem Gespräch, in welchem er sich nach Belieben enthüllte.“ Von der physiognomischen Spionage führt ein direkter Weg zur Kriminalanthropologie Lombrosos, dem Versuch einer Typologie der Abweichungen und ihrer Gestalten. Lombroso erscheint als Zeuge einer semiologischen Revolution: Alles ist Zeichen; Knochen, Augen, Tätowierungen und Graffitis. Der Kriminalanthropologe hat alle Zeichen zu erkennen und zu ordnen. Mit größter Selbstverständlichkeit mißt Lombroso die Schmerzempfindlichkeit der Verbrecher - das wurde in den USA noch in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts getan mittels eines elektromagnetischen Apparates ebenso wie die Häufigkeit von erotischen Graffitis an Zellenwänden. So nähert er sich der Verbrecherseele. Aber auch Lombroso gehört in jene Linie, die über die Behauptung des schon zu Lebzeiten heftig bekämpften Wiener Nervenarztes Moriz Benedikt - das Verbrecherhirn füllt die Lücke zwischen Säugerhirn und Primatenhirn - über den Biologismus der Jahrhundertwende zu den Rassentheorien führt, die die Nationalsozialisten nicht nur zum Programm erhoben, sondern in blutige Wirklichkeit überführt haben. Auch davon berichtet die Wiener Ausstellung.

Und doch scheinen alle Positivierungen der Seele ins Leere zu laufen. Darstellbar und meßbar sind immer nur einzelne psychische Funktionen, nie aber der Punkt, an dem diese Leistungen zusammenlaufen, assoziiert und koordiniert werden. Als ob die Geschichte vom Hasen und vom Igel einen neuen Sinn bekäme, ertönt bei jeder Lokalisierung einer psychischen Funktion der Ruf der Seele: Hier bin ich nicht. Kunst und Psychoanalyse, so unvergleichbar sie sein mögen, scheinen einzig die Möglichkeit zu eröffnen, die Seele, wenn sie noch so genannt werden soll, zur Darstellung zu bringen, ohne dem Zwang der Fest-Stellung zu unterliegen. Freuds topologisch-funktionelle Konstruktion des Seelenapparates bestimmt als den Ort des Unbewußten den „anderen Schauplatz“, den Ort des Anderen, in den Worten Lacans. Dieser Ort ist nie dort, wo sich die bewußte Darstellung wähnt, denn sein einziges Gesetz ist das einer unmöglichen Lokalisierung: Verschiebung und Verdichtung.

Die Geschichte der modernen Seele erschöpft sich nicht in den diskursiven und informativen Gebilden. Die Ausstellung ist durchsetzt von Gemälden, Versuchen, die fremde, aber auch die eigene Seele zum Bild zu bringen. Füsslis bildgewordene Alpträume, von Goghs und Munchs Selbstporträts, Blades biblische Visionen, die Seelenlandschaften Runges, Friedrichs, Carus, Hodlers und Munchs, die Bilderrätsel Max Ernsts und Max Klingers sind nur die Spitze einer künstlerischen Archäologie der Seele. Die Versuche der Maler - psychiatrisierte und nichtpsychiatrisierte - stehen oft genug im Dienste oder Schulter an Schulter mit der Psychiatrie. So hat beispielsweise Gericault für den Assistenten Esquirols zehn Porträts von Geisteskranken gemalt. Oft genug aber stehen sie auch ganz schlicht im Dienst einer größeren Herrin: der Wahrheit, die selbst ans Licht drängt. Hier sind die Bilder Richard Dadds die größte Überraschung der Ausstellung. Der begabteste Schüler der Royal Academy, Untergebener der Gottheit Osiris, bringt an einem schönen Augusttag des Jahres 1843 seinen Herrn Vater mit einem Rasiermesser ums Leben. Für die Kunstwelt ist der Künstler, der ins Krankenhaus Bethlem (das früher so berühmte Bedlam), Abteilung für kriminelle Irre, geliefert wird, gestorben: Sie widmet ihm schon 1844 den ersten Nachruf.

Eingesperrt zwischen hohe Mauern malt Dadd Seeszenen, Allegorien der Leidenschaft, ein Porträt seines Psychiaters Morison und die „Crazy Jane“ (1855). Die Pflanzen und Federn, mit denen sie sich im Winde behängt, zeugen von einer Freiheit, die der in sich gekehrte Blick nicht dementiert. Vielmehr bestimmt der Blick, in dem sich der Blick des Malers oder Betrachters spiegeln, den Ort der Seele als Nicht-Ort, unzugänglich der Spionage der Mediziner und ihrer Apparate. Aus dieser zweiten Perspektive, die die Ausstellung eröffnet, erscheint die Geschichte der modernen Seele als eine Geschichte der Anerkennung: die Erkenntnis, daß die „Seele“ auf die Kommandos der Apparate, die Sicht und Meßbarkeit erzwingen wollen, nur mit der leeren Rückgabe der Kommandos antwortet. Da diese Rückgabe mehr über die Apparate als über das befragte Objekt aussagt, hat Freud versucht, die Seele in ihrer eigenen Sprache zur Rede gelangen zu lassen. Diesen Einbruch des Unbewußten, dem sich Kunst und Psychoanalyse öffnen, stellt die Ausstellung als Wiedergewinnung der Würde dar. So ergänzt eine ganz und gar romantische Deutung die historisch-materialistische Geschichte der Seele als Apparat.

Armin Adam

Die Ausstellung im Wiener Messepalast ist noch bis zum 6.August täglich geöffnet. Der Katalog kostet 80 DM.