„SPIEGELBERG, DAS BIN ICH!“

■ Einmal quer durchs „Theatertreffen der Jugend“

Auch das noch: Kaum hat man den Inszenierungsgrößenwahn des jährlichen „Theatertreffens“ hinter sich, ziehen die Kids nach. Im Schatten der Profis, fernab von jeder größeren Öffentlichkeits- oder gar Pressewirkung blühte auch dieses Jahr - zum 10. Mal das „Theatertreffen der Jugend“. 159 Schülertheaterinitiativen rund um Schule, staatliche Theater und soziale Einrichtungen hatten sich für den Bundeswettbewerb in Berlin beworben, aber nur zehn wurden auserwählt, die seit Dienstag abend im „Haus der Kulturen“ ihre Produktionen zeigen. Einen „Sieger“ gibt es allerdings nicht - der erstmals von der Berliner Sparkasse gestiftete Theaterförderpreis von jeweils 5.000 Mark ging am Eröffnungsabend an alle zehn Gruppen. Wer managt es am besten, die Urkunde in der rechten, die Schulsenatorin bzw. den Bundesbildungsminister in der linken Hand, sich grinsend vor den abgeklärten Linsen der Berliner Starrabauken zu produzieren?

Ein letztes Reservat

Kein Wettbewerb, sondern ein „echtes Treffen“ mit Workshops und Freizeitprogramm - diese Konzeption ist der Spielpädagogin Barbara Fischer zu verdanken, die das „Theatertreffen der Jugend“ acht Jahre geleitet hat, nachdem es anno 1979 vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft aus der Taufe gehoben worden war. Aus dem Modellversuch „Künstler und Schüler“ entstand in Zusammenarbeit mit den Berliner Festspielen als Träger, dem Schulsenat und der Akademie der Künste das - wie es damals noch hieß- „Schülertheatertreffen“. An vielen bereits bestehenden reformpädagogischen Schulprojekten vorbei, wie im Jubiläumsbuch „Spielräume - Spielträume“ nachzulesen ist, was dem Treffen von Anfang an Konflikte mit Landesverbänden und Schulpädagogen einbrachte. Denn der 35.000-Mark -Jahresetat wirkt bis heute geradezu überdimensional gegenüber der mangelnden kontinuierlichen Förderung regionaler Spielpädagogik an den Schulen. Das Fach „Darstellendes Spiel“ steht nur in wenigen Bundesländern im Lehrplan (in Berlin seit 1977), und wenn sich der einstige Vorreiter TdJ auch mittlerweile auf regionale Schülertheatertreffen und ein ergänzendes „Schultheatertreffen“ der Pädagogen und Spielleiter stützen kann, so ist der Weg zum gleichberechtigten anerkannten Schulfach noch weit. Solches forderte schärfstens der Essener Schauspieldirektor und Jugendtheaterprofi Hansgünter Heyme am Eröffnungsabend: Wo Einsicht und Wille fehlten, die Theater als „letzte Reservate von Vitalität, Sittlichkeit, Moral und aufmüpfiger Provokation“ zu erkennen, müsse der Staat die Schulen zum Fach, die Theater zur Einrichtung von Jugendclubs zwingen.

Wasser auf den Mühlen des neuen Leiters Hans Chiout, der die Basisarbeit der regionalen Treffen als „willkommene Entlastung“ des bundesweiten Treffens sieht, das von der einstigen Innovatorenrolle zur qualitativen Weiterentwicklung jugendlicher Theateransätze fortschreiten könne. Chiout, vorher Leiter des hessischen Schülertheatertreffens und langjähriges Jurymitglied hat mit seiner Berufung gleich gründlich die Verfahrensordnung umgekrempelt. Mußte früher ein Jurymitglied einsam ein ihm zugeteiltes Bundesland beackern und dann die Entscheidung womöglich noch auf dem Treffen eigensinnig gegen den Rest der Welt verteidigen, wird in Zukunft zwecks Vermeidung dieser „Schaukämpfe“ durch Videovorauswahl gemeinsam selektiert und dann gezielt zusammen gereist. War schon unter der Leitung von Barbara Fischer nicht die „beste“ Inszenierung, sondern die „interessante, die Diskussion herausfordernde“ Produktion Kriterium für die Auswahl, so soll jetzt mit einer verkleinerten, vom Leiter selbst vorgeschlagenen und durch das Kuratorium der Festspiele bestätigten Jury noch mehr die „theatrale Attraktivität“ im Vordergrund stehen statt vorgefaßter Kategorien.

Harte Kost vom Ausguck

Was zu beweisen war. Denn über „theatrale Attraktivität“ bestehen schulauf, theaterab bei jung und alt durchaus ganz verschiedene Ansichten. Nach den drei ersten „Hämmern“, einer Schiller-, Faßbinder- und Peter-Weiß-Adaption gingen die Wogen hoch her. „Ich weiß nicht, ob ich blöd bin“, fragte ein Teilnehmer, aber er habe einfach nichts geblickt, weil er Marat/Sade von Peter Weiß vorher nicht kannte. Der Einwand eines Darstellers „Was man nicht gleich versteht, kann man sich ja hinterher antun“ half einem Redakteur der täglich erscheinenden Zeitung des TdJ, „Brett“ auch nicht weiter, der die monatelange Analyse der Theatergruppe nicht innerhalb so kurzer Zeit mit wenigen erreichbaren Nachschlagwälzern einzuholen vermochte. „Vielleicht liegt es ja daran“, meinte ein Spielleiter, „daß bis Samstag nur Gymnasiastenproduktionen kommen und dann erst die Krüppel, die Türken, die Hauptschüler“. (Eine Äußerung, die eine Journalistin auf die Palme brachte von wegen der Diffamierung der „Krüppel“, nur sind die „Krüppel“ und ihre Pädagogen viel herber drauf, der Spielleiter war nämlich vom Rehabilitationszentrum Neckargemünd.) Keine Entschuldigung für die Darstellerin des wüsten Schiller -Räubers Spiegelberg vom „Thalia Treffpunkt“: „Intellektuelle Scheiße muß auch vom Gymnasium nicht kommen!“

Womit sie zumindest für die Produktion, an der sie beteiligt war, nicht unrecht hatte. Reclamheimlich ... aber wozu itzt das spielt nicht einfach Schillers Räuber rauf und runter. Am Anfang war das gelbe Reclamheft und die Ratlosigkeit, wo man anfangen soll, und zwei, die sich um die Hauptrolle streiten - statt irgendwann die saubere Lösung zu präsentieren, ist die Probensituation als Improvisation zum Bestandteil des Stücks geworden. Räuberhauptmann Karl und seine Konkurrentin Spiegelberg kleben bewußt am Textbuch und lesen doch mit solcher Ekstase, als würden sie mitten in Sankt Pauli um die Räuberbande kämpfen. Wenn Spiegelberg „dran“ ist - „haa! Spiegelberg - das bin ich!“ - dann ist sie das so heftig, daß sie fast aus der Rolle fährt, und beweist dem Publikum mit zwei schnellen Blicken ins Reclam-Heft souverän, daß es immer noch im Theater sitzt. Aus dem ursprünglichen Drama entsteht so etwas Neues: InternatsschülerInnen entdecken nachts mit den Räubern auch den jungen Schiller, der sein Stück in der Militärschule schrieb, und erkennen Teile ihrer eigenen Schulsituation in der noch größeren Repression des preußischen Militärstaats wieder. Was hier u.U. das Verständnis schwer macht, ist nicht der kompakte Klassiker, sondern daß die Geschichte nicht als Handlung ausgespielt wird: Die Preußenjacke als einziges Kostüm scheidet aus als Indiz, auf welcher Ebene und in welcher Rolle grade gespielt wird. Wenige Requisiten - graue Militärdecken, eine Lilie, Leiter und Gerüst - und ein weißer Bühnenkasten einer alten Thalia-Produktion reichen aus. Nach der Aufführung erzählt Marina Wandruszka, Thalia-Schauspielerin und Regisseurin dieses Projekts, daß viele Jugendliche schon nicht mehr „schreien“ könnten, weshalb Theaterarbeit erst mal bei elementarsten Verhaltensweisen ansetzen müsse. Schiller jedenfalls schreit wieder frisch.

Die Fahne hoch

Eine ganz andere Form von Körperbeherrschung beeindruckte viele TeilnehmerInnen bei Marat/Sade der Theatergruppe „Frühlings Erwachen“ des Heinrich-Heine-Gymnasiums aus Köln. Das Gros der Truppe tobte konsequent drei Stunden lang als individuelle Irre. Vom lüsternen Wichser mit verdrehten Augen und hechelnder Zunge bis zur Spastikersimulantin wählte sich jede/r einen möglichen Insassen aus der Heilanstalt Charenton, in der Peter Weiß seinen ebenfalls inhaftierten de Sade die französische Revolution und ihren Terreur nachinszenieren läßt. Doch abgesehen von dieser Möglichkeit, „mal richtig auszuflippen“, wurde nicht so recht klar, was die Schülergruppe bewegte, ausgerechnet ein solch komplexes Revolutionsstück samt philosophischer Gewaltdebatte sich bis zur körperlichen Erschöpfung (Knochenarbeit“, „es ging an die Grenze“) ohne Einschränkung anzutun. Trotz oder vielleicht gerade wegen der farbenprächtigen Kostüme, der perfekten Musical -Choreographie, des gekonnten Gesangs blieb zwischen dem eingepuderten de Sade am Schreibtisch und dem eingeröteten Marat in der Badewanne die Botschaft „Keine Revolution ohne Kopulation“ auf der Strecke.

„Laßt doch mal die Freude raus über diesen schönen Abend“ so manche(r) ging fasziniert bis zur nächsten Teestubendiskussion mit der Freude schwanger, wo tief nach den Ursachen gegründelt wurde: „Es war perfekt, die Schminke hat gestimmt“ bzw. ein neuer Standard im Kopf/Bauchtheater -Index gesetzt wurde: „Ich würde sagen, es liegt im Brustbereich.“ Über der Diskussion um die angemessenen ästhetischen Mittel ging eines fast verloren: die vollmundig behauptete „politische Brisanz“ des Weiß-Stoffs. „Wo war sie bei euch“, fragte ein Teilnehmer. „Nach der Ankündigung am Anfang hab‘ ich gewartet und gewartet. Ich hab‘ bis zum Schluß gewartet, denn das Drumherum hat mich immer abgelenkt.“

Gegenüber den literarischen Stücken hatte die Eigenproduktion Ikaros der Theaterklasse „Zehndohra“ des Kopernikus-Gymnasiums aus Rheine so wenig Zugangsschwierigkeiten, daß sie schon wieder angegriffen wurde: zu „plakativ“. Dabei läßt sich ein solch aktuelles Drama im Alltag schwer um Tatortklischees herumschiffen: Ein Biochemiker, der grade mal eben einen nicht bekämpfbaren biologischen Kampfstoff entwickelt hat, wird samt seinem Alternativspontisöhnchen von fünf „Schwarzen“ entführt, die ihn mit Baader-Meinhof-Sprüchen über seine dunklen Machenschaften aufklären bzw. seinem Sohn die letzten Illusionen über seinen Bundfaltenkaschmirerzeuger rauben. Während die fünf finsteren Gestalten auf einem Stahlgerüst zunächst plausibel, dann immer leieriger das Glaubensbekenntnis der radikalen Linken ablassen, tummelt sich unten eine Jugend ohne Ideale, „Ich glaube an den Verkehrsfunk“ singend. Fünf Freunde finden jedoch keine Terroristen, das besorgt die Polizei, und mit einem eleganten 2 (tot) : 2 (gefangen) : 1 (entkommen) zieht sich Autor und Spielleiter Jörg Scheibe elegant aus der Affäre und aus der Gewaltdebatte. Ikaros, der immer fliegen wollte und in der Clique (fast) allein blieb, stürzt in die Realität ab und wird verrückt.

Mit Teilen der Schul- Bigband plus privater Combo hat der Autor aus dem aktualisierten Dädalus/Ikarus-Mythos ein fetziges Autonomenmusical mit Kitsch, Wahrheit und Ironie gebastelt. Die Gitarren wimmerten manchmal wie im Rockkeller des kirchlichen Jugendheims, im grünen Spot sang das junge Liebespaar: „Du gehst auf Demos für den Frieden, beim Lieben willst du oben liegen ...“ aber dann gibt es immer wieder einen Bruch mit der weihevollen Stimmung: „Ich rede vom großen Licht, und du kommst mit der Bundesbahn.“ Der BND tanzt mit sich selbst im viel zu kurzen Trenchcoat einen überzogenen Tango, und das Lied vom „Ideal“ wurde durch eine Litanei von Schrifttafeln von „Zitteraal“ bis „Geh nie AL“ konterkariert.

In der Diskussion am nächsten Tag wurde das Stück jedoch nicht nur kritisiert (keine psychologische Entwicklung der Charaktere“, „zu klischeehaft“), sondern geradezu fertig gemacht, „als wenn 'n Stück Fleisch hier liegen würde“. Dabei hätte man durchaus streiten können, ob ein Musical dieser Problematik angemessen ist, ob im Generationskonflikt der Vater „eine tragische Figur“ „Zehndohra“ oder ein nicht entwicklungsfähiger Überzeugungstäter ist, und ob es gerechtfertigt ist, den inszenierten Terroristen keine Entwicklungsmöglichkeit zuzugestehen.

Vorsicht: Zerbrechlich!

Aber eine konstruktive Kritik werde von „Eitelkeit, Arroganz und Tellerrandperspektive“ verhindert, schlägt Jörg Scheibe in der Samstags-TdJ-Zeitung zurück. Andere beklagen sich vor allem über besserwisserische Spielleiter und Pädagogen, die es besser wissen müßten. Empfindlichkeit? „Wenn ihr erst von der offiziellen Presse kritisiert werdet, dann werdet ihr Augen machen - diese Diskussion ist dagegen harmlos“, sagt ein langjähriger Mitarbeiter des TdJ. Heißt das also endgültig, die Maßstäbe des Profitheaters anlegen?

Daß das nur zum Schaden gereicht, wird immer da klar, wo SchülerInnen Stadt- und Staatstheater imitieren; nicht weil sie es nicht professionell genug schaffen, sondern weil es ihrer Lebenssituation nicht entspricht. Ein Beispiel fürs Gegenteil ist Rüya - Ein Traum in Bildern, eine Projektarbeit mit türkischen Mädchen am Münchner „Theater der Jugend“ unter der An-Leitung von Antonia Brix, Orhan Güner und Hürdem Gürel. So wie acht türkische Mädchen, die in Deutschland aufgewachsen sind, auf einfachste theatralische und witzige Weise ihre Situation „spielen“, ist in keinem Berliner Offtheater vorstellbar. Ausgangspunkt ist Rüyas Traum von der Flucht aus dem Elternhaus, den ihre Freundinnen auf der Bühne nachspielen. Die Rollenverteilung findet wie in reclamheimlich auf der Bühne statt: „Ich spiel den Fernseher“, ein offenbar auch für türkische Väter unentbehrliches Familienmitglied. Ein Leintuch dient einmal dazu, die beengten Wohnverhältnisse in der neuen Eigentumswohnung mit einem darunter kriechenden Elternpaar darzustellen, ein andermal wird mit einer Handbewegung, die das Tuch fallen läßt, dem Publikum türkische Sexualmoral nahegebracht. Deutsche Vorurteile vom armen Türkenmädchen werden ad absurdum geführt, wenn Rüya, wieder in der Türkei, in der türkischen Integrationsklasse Heimweh nach den Alpen hat. Das Integrations-Klassenziel wird wohl so nicht erreicht, aber ganz sicher der Höhepunkt der Aufführung, wenn die Mädels zum bayerischen Halleluja-Song den Gerstensaft aus der Taschenlampe trinken.

Nur Theater

Schwierigkeiten mit der Integration haben wieder mal nicht die „Betroffenen“, sondern die Zuschauer, die der Gruppe anheimlegten, doch gleich ihren ganzen traditionell verwurzelten Kulturkreis mit der Aufführung zu beglücken. Auch das Rehabilitationszentrum Neckargemünd, die am gleichen Abend mit In Ohnmacht des Alltags gastierten, wurde gefragt, ob sie das Stück auch in Behindertenzentren spielen würden. Für die Gruppe, die schon länger Theater spielt, ist es mittlerweile „scheißegal, ob wir behindert sind oder nicht, und mir ist auch scheißegal, ob das Publikum behindert ist oder nicht“. Denn In Ohnmacht des Alltags ist gerade kein Stück, das die Behinderung thematisiert. Andererseits „ist es hirngespinstig“, so die Gruppe, die Behinderung zu verleugnen und ein klassisches Stück aufzuführen, „wo Romeo im Rollstuhl sitzt, und Julia zufällig eine Sprachstörung hat“. Deshalb hat Yilmaz Arslan ein Stück geschrieben und mit der Gruppe inszeniert, das die Rollen stark überzeichnet, so daß die Behinderung zur Nebensache wird. Sieben Typen leben nahezu kommunikationslos und egozentrisch nebeneinander her und werden erst durch eine gemeinsame Bedrohung aufeinander aufmerksam. Im Zentrum stehen sich Revolutionär (Tarik Senouci) und Nazi (Andreas Schichtel) gegenüber. Der eine knallt den andern ab, doch der Nazi steht mit seiner unheimlichen Lache wieder auf. „Schade, daß es nur Theater ist“ - der Satz bleibt dem Humanisten im Hals stecken. Eine Strategie der Entlarvung durch Provokation: diesen Tabubruch können sich wohl nur „Tabus“ leisten.

Heute abend um 17.30 Uhr im Haus der Kulturen wird die letzte Produktion gezeigt: „Oyle bir Sinif - So eine Klasse“, eine Eigenproduktion des Deutsch-Türkischen Jugendtheaters der Volkshochschule Wedding aus Berlin.