„Großteil der genannten Vorwürfe waren nicht zu entkräften“

Auszüge aus dem „Gintzel-Bericht“ zum Polizeieinsatz am 1.Mai in Kreuzberg  ■ D O K U M E N T A T I O N

Welche Vorgänge haben die Lage am 1.Mai 1989 maßgeblich mitbestimmt?

Die seit dem 1.Mai 1989 in der Öffentlichkeit und innerhalb der Berliner Polizei geführte Diskussion um die Vorgänge am 1.Mai 1989 in Berlin hat zu Vorwürfen geführt, denen die Arbeitsgruppe nachgegangen ist.

Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen:

a)Nach dem 27. April 1989 gab es ernsthafte Hinweise auf beabsichtigte Ausschreitungen am 1.Mai 1989, die bei der Einsatzplanung nicht hinreichend berücksichtigt wurden.

b)Die rechtlichen Grenzen polizeilichen Verhaltens und die Absichten des Polizeiführers des Einsatzes (PfdE) sind in den Einsatzbesprechungen nicht präzise aufgezeigt worden. Laxe Einsatzhinweise bezüglich Vorkontrollen, Sicherstellung von Waffen, Festnahme von Personen und die Behandlung von Aufklärungsergebnissen haben die Absicht des PfdE beim Vorgehen gegen Rechtsbrecher nicht klar erkennen lassen.

c)Trotz veränderten Lagebildes hat es keine Vorkontrollen wie im Jahr 1988 gegeben, mit der Folge, daß bewaffnete Straftäter am Aufzug teilnehmen konnten.

d)Weisungen des Senators für die Senatsverwaltung für Inneres hinsichtlich des Mitführens von Polizeikräften in Seitenstraßen und des schnellen Zugriffs bei begangenen Straftaten sind nicht beachtet worden.

Aufträge aus dem Durchführungsplan vom 26. April 1989 zu/zum

-Vorkontrollen

-seitlicher Begleitung erkannter Störer

-Verhindern von Ausschreitungen aus dem Aufzug

-Durchsetzen des Vermummungsverbotes

-Objektschutz entlang der Marschstrecke

-Verhindern des Abmarschs eines geschlossenen Störerblocks nach Kundgebungsende

sind nicht lageangepaßt ausgeführt worden, zumal sich nach Aufklärungsergebnissen schon am Antreteplatz zahlreiche erkennbar zur Gewaltanwendung entschlossene und zum Teil mit Knüppeln bewaffnete, vermummte Straftäter befanden.

e)Die Gegenaufklärung des Störers berichtete laufend in den Aufzug hinein, daß trotz schwerer begangener Straftaten weit und breit keine Polizei zu sehen sei. Dies ermunterte zunehmend mehr gewaltbereite Personen, sich an den Ausschreitungen zu beteiligen.

f)Die Angaben über die Zahl der im Aufzug vorhandenen Gewalttäter, von der die Einsatzleitung ausging (ca. 150), weicht von der Realität (800) erheblich ab.

g)Präzise Aufklärungsergebnisse über schwere Straftaten, die von Anfang an aus dem Aufzug heraus begangen wurden, haben den für den störungsfreien Verlauf des Aufzugs verantwortlichen Polizeiführer nicht erreicht.

Erst nach Plünderung eines Penny-Marktes in der Reuterstraße habe er sich zu einer seitlichen Begleitung, die erst nach weiteren 45 Minuten eingenommen wurde, entschlossen.

Die Kräfte mußten über weite Wege herangeführt werden. In der Zwischenzeit war es zu erneuten schweren Straftaten gekommen.

h)Die Zahl der zunächst seitlichen Begleitung im Zuge der Werbellinstraße eingesetzten Polizeikräfte war angesichts der vorausgegangenen schweren Straftaten zu gering, so daß es zu sehr bedrohlichen Situationen für die eingesetzten Beamten kam.

i)Große Gruppen von Aufzugsteilnehmern sind nach der Abschlußkundgebung von der Polizei in den Kreuzberger Kiez begleitet worden, obwohl das Verhindern des Abmarschs eines geschlossenen Störerblocks angeordnet war.

j)Die Einsatzleitung hat insbesondere im Raum Lausitzer Platz, Skalitzer Straße, Görlitzer Bahnhof u.a. ihre Taktik nicht auf das Störerverhalten eingestellt. In diesem Zusammenhang wurde auch über erhebliche Führungsdefizite berichtet.

k)Neu in den Einsatzraum entsandte Polizeikräfte erhielten keine Hinweise auf die Brutalität der Straftäter und auf Besonderheiten des Einsatzraumes. Dies führte zu überraschenden gefährlichen Konfrontationen mit dem Gegenüber.

(...)

m)Hilfeersuchen von äußerst bedrängten Polizeikräften ist nicht entsprochen worden, obwohl sich Reservekräfte in Unterkünften oder in der Nähe befanden und sich angeboten haben.

n)Es ist nicht versucht worden, den über eine Stunde lang auf einem Hügel am Görlitzer Bahnhof versammelten Kern von über 200 vermummten Straftätern einzuschließen und vorläufig festzunehmen. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten waren die Voraussetzungen für eine wirksame polizeiliche Maßnahme außerordentlich günstig.

o)Den ganzen Tag über sind immer wieder zum Teil dieselben Geschäfte geplündert worden, obwohl Objektschutzmaßnahmen angeordnet waren.

p)Einem Abschnittsleiter sind zehn Einsatzbereitschaften unterstellt worden, ohne daß dieser über das erforderliche Führungsinstrumentarium verfügte und darüber hinaus im Führen so umfangreicher Polizeieinheiten ungeübt war.

Die Arbeitsgruppe ist den zum Teil widersprüchlichen, brisanten Aussagen in den Medien und in den dienstlichen Verlaufsberichten Beteiligter nachgegangen. Sie hat mit zahlreichen Beamten, die in unterschiedlichsten Funktionen am Einsatzgeschehen beteiligt waren, Gespräche geführt. Dabei konnte ein Großteil der genannten Vorwürfe nicht entkräftet werden.

Die Arbeitsgruppe hatte weder die Kompetenz noch einen Untersuchungsauftrag bezüglich obiger Vorwürfe. Sie hat sich deshalb auf

-Hinweise und

-die graphische Darstellung problematischer Einsatzphasen anhand von Karten beschränkt.

Ihrem Auftrag entsprechend wird die Arbeitsgruppe anstelle einer Wertung in den vier folgenden Teilen Vorschläge unterbreiten, deren Berücksichtigung eine effektive und bürgernahe Polizeiarbeit in der Zukunft versprechen.

Bericht der Arbeitsgruppe zur Entwicklung von Vorschlägen für polizeiliche Maßnahmen im Zusammenhang mit gewalttätigen demonstrativen Aktionen unter Berücksichtigung der Vorgänge am 1. Mai 1989