Die Macht der Gewehrläufe beendet die Pekinger Kommune

Peking, am frühen Sonntag morgen. Die niedergewalzten Trümmer der Statue der Freiheit liegen rußverbrannt auf dem Tiananmen-Platz - Symbol für den vielleicht düstersten Tag in Chinas Geschichte. Mit Schützenpanzerwagen und Maschinengewehren richteten Truppen der „Volksbefreiungsarmee“ unter der Pekinger Bevölkerung ein Blutbad an: „Tausende von unschuldigen Zivilisten sind in einem barbarischen Akt der Niederwerfung getötet worden“, sagte der Sprecher des offiziellen englischsprachigen Rundfunksenders Radio Peking und rief zum Widerstand auf. Danach wurde er nicht mehr gehört.

Das Ende begann am Samstag morgen. Die Universität erreicht die Nachricht, daß die Armee beim nächtlichen Versuch, in die Stadt einzudringen und den Tiananmen zu stürmen, mit äußerst brutalen Mitteln vorgegangen sei. Hunderte von Menschen hatten sich erneut vor die Fahrzeuge geworfen, um den Durchbruch zu stoppen, doch die Armeelastwagen fuhren diesmal ohne abzubremsen direkt in die Menschenmenge hinein. Im Westen der Stadt waren drei Radfahrer sofort tot, im Osten bei Jianguomen vier, in Fengtai wurden mehrere Blockierer schwer verletzt. Die Studenten aller Unis riefen für Samstag mittag 14 Uhr zur Großdemonstration auf.

Der mehrere tausend Personen zählende Protestzug der Peking -Uni, der sich gegen 13.30 Uhr noch sechs Kilometer vom Tiananmen entfernt mit den Kontingenten der anderen Unis vereinigte und an der Spitze des Zuges Richtung Zentrum marschierte. Gegen 14 Uhr befanden sich die Demonstranten noch vier Kilometer entfernt bei Fuxingmen, als vom Tiananmen her das Krachen einer Kette von Explosionen herüberdrang, kurz darauf wurden die Studenten von einer zurückflutenden Menschenmenge gestoppt, die tränenüberströmt und manche aus offenen Wunden blutend schrien: „Die Armee setzt Tränengas ein. Geht nicht weiter, die schießen mit Tränengasgranaten aus allen Richtung und schlagen wahllos auf Frauen und Männer ein.“ Gegen 14Uhr waren mehrere 1.000 Soldaten mit Stahlhelmen und Gewehren bewaffnet aus den Toren des blockierten Regierungssitzes, der Halle des Volkes und dem Historischen Museum am Tiananmen gestürmt und schlugen die am Sit-in beteiligten Studenten und die unterstützende Stadtbevölkerung ein. Da die Soldaten sofort von Tausenden umringt wurden, schossen sie Tränengas in die Menge.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich mehrere 10.000 Menschen auf dem Platz und ca. 30.000 Demonstanten in unmittelbarer Nähe, die nun zu Hilfe eilten. Dutzende von Anwohnern hatten Kleidung und Bettlaken in Streifen gerissen und verteilten die angefeuchteten Stofffetzen als Mundschutz an die vorwärtsstürmenden Studenten. Arbeiter hatten in der Nähe des Regierungssitzes das Pflaster aufgerissen und drückten den Studenten die Steine in die Hand. In der Changan-Allee rissen Demonstrationsordner schreiende Frauen mit Kindern auf dem Arm in Hauseingänge, Sanitäter versuchten, die blutenden Verletzten aus der Gefahrenzone zu schaffen. In der Straßenmitte stehende Armeelastwagen wurden von den Studenten gestürmt und in Minutenschnelle fahruntüchtig gemacht, indem die entscheidenden Motorteile ausgebaut wurden. Wasserkanister wurden nach vorne gebracht, um die vom Gas rot-gereizten Augen auszuwaschen.

Zehntausende schrien: „Es lebe das Volk!“ Der Schwung der neueingetroffenen Studenten riß die zurückweichende Menge wieder nach vorne. Frauen warfen Flaschen auf die Soldaten, die inzwischen Auffanglinien gebildet hatten, hinter denen die Tränengaswerfer aus der Deckung heraus eine zweite Reihe von Gasgranaten auf die anstürmenden Demonstranten schoßen. In Kürze war die ganze Straße eingehüllt in weißem Rauch. Eine Granate explodierte vor den Füssen einer 19jährigen Studentin der Shifan-Uni und riß ihr beide Beine auf. Ein panikartiger Rückzug setzte ein, in dem viele Gestürzte von den Fliehenden niedergetreten wurden.

Die etwa 300 Ordner der in vorderster Linie stehenden Peking-Uni organisierten im Chaos die Reihen der Studenten neu und die von hinten nachdrängenden Demonstrantenblocks sammelten die Flüchtenden in einer Auffanglinie. Im Lärm von Schlachtrufen, Explosionen und den Schreien der Verletzten siegte die Wut über die Angst. Die Studenten stürmten ein weiteres Mal, ohne sich um die Gasschwaden zu kümmern, auf die Soldaten zu, erreichten die Reihen und durchbrachen sie nach wildem Handgemenge. Viele Waffen und Helme wurden erbeutet. Die Armee zog sich daraufhin in ihre Ausgangsposition zurück. Die zurückgelassenen Militärfahrzeuge wurden geplündert und zerstört. Der Tiananmen und die Freiheitsstatue waren noch einmal, ein letztes Mal verteidigt worden.

Um 16 Uhr hatten die Studenten die Lage wieder im Griff. Über 200 Schwerverletzte, ein dreijähriges Mädchen ist nach dem Gaseinsatz erblindet. Gegen 21 Uhr hatte sich die Stimmung wieder etwas entspannt, kaum jemand rechnete mit einem neuen Angriff der Armee an diesem Abend. In den 16-Uhr -Nachrichten teilte der Regierungssprecher dann mit, daß die Armee bereit sei, mit allen Mittel ihren Auftrag auszuführen und die Demonstranten den Platz sofort zu verlassen hätten. „Shoot to kill“

In der Nacht zum Sonntag inszenierte die „Volksbefreiungsarmee“ dann ein Blutbad. Um zwei Uhr morgens drangen die Soldaten erneut von allen Seiten aus den Stellungen hervor und begannen, mit Gummigeschoßen und scharfer Munition auf die Demonstranten zu schießen. Die meisten Demonstranten flohen, nur 2.000 Studenten und Arbeiter scharten sich um das „Monument der Helden des Volkes“, als 20 Panzer die Straße des Ewigen Friedens hinunterkamen und bei jeder Kreuzung zu schießen begannen. Der Tiananmen und die anliegende Changan-Allee erwiesen sich als tödliche Fallen, aus denen es wegen der wenigen verstopften Ausgänge kaum ein Entrinnen gab.

Die Armee hatte den Befehl erhalten, mit Gewalt den Platz von „Kriminellen“ und „Aufrührern“ zu räumen. Vom Norden des Platzes her trieben die Soldaten die Fliehenden schießend und prügelnd vor sich her, Panzerwagen rollten über Gestürzte, überall lagen die Toten und Verwundeten in ihrem Blut. Einige Soldaten schossen in die Luft, andere aber gezielt auf alles, was sich bewegte. Aus Pistolen, Gewehren und sogar Maschinengewehren feuerten sie auf Studenten, Arbeiter, Frauen und Kinder. Das älteste Opfer ist 78, das jüngste drei Jahre alt.

Ärzte und Krankenwagen wurden ebenfalls unter Beschuß genommen. Zwei ausländische Journalisten sollen erschossen worden sein. Ein Korrespondent und ein Kameramann der amerikanischen Fernsehgesellschaft wurden verhaftet. Augenzeugen berichteten, daß Studenten, die Verletzte in Sicherheit bringen wollten, auf der Stelle niedergeschossen wurden.

Im Ostteil der Stadt, drei Kilometer vom Tiananmen entfernt, entwaffneten Bürger 150 Arbeiter, die von der Regierung offensichtlich angeheuert worden waren, um eine Straßenblockade zu räumen. Die Arbeiter hatten fünf Lastwagen dabei - bis zum Rand gefüllt mit hölzernen Schlagstöcken. Die Stöcke wurden an die Demonstranten verteilt.

Bis gegen 5 Uhr früh waren Explosionen und Schüsse aus dem Stadtzentrum zu hören. Nach sieben Wochen ist der Tiananmen nun in der Hand der Armee. Den Soldaten, denen die Bevölkerung noch Tage zuvor Limonade und Essen gebracht hatte, schlägt eine Welle des Hasses entgegen. Studenten retteten einen Panzersoldaten vor der Lynchjustiz. Im Osten der Stadt wurde die Leiche eines Soldaten an einer Brücke aufgehängt gesehen.

In den Straßen stehen überall bis in die Außenbezirke hinein brennende Armeefahrzeuge. Über die Zahl der Opfer gibt es noch keinen Überblick, aber alle Krankenhäuser meldeten Hunderte von Verletzten mit Schußwunden. In den Korridoren der völlig überlasteten Krankenhäuser liegen Leichen und Verletzte auf dem Boden.

Heute Vormittag gab das Studentenkomitee der Peking-Uni die Zahl von 95 Toten als bereits gesichert an. Vor den Krankenhäusern warten Hunderte von Familienangehörigen auf Nachricht. Um 9 Uhr vormittags kehrten die völlig erschöpften Studenten an die Unis zurück. Den ganzen Rückweg über hatten sie der Bevölkerung über die grauenhaften Ereignisse berichtet. Viele stehen unter Schock. Als sie den Campus erreichten und blutbefleckte Hemden hochhielten, konnte kaum mehr jemand die Tränen zurückhalten.

„Nieder mit Li Peng“, stimmte ein Student an und Hunderte fielen ein. „Tötet Li Peng, nieder mit den Faschisten“, schrieen die Studenten in ihrem Schmerz. Tausende strömten auf die Straßen, alte Mütter warfen sich auf die Kreuzungen und schlugen sich auf den Kopf. An vielen Stellen wurden Barrikaden errichtet. Überall an den Straßenkreuzungen stehen ausgebrannte Militärfahrzeuge, Truppentransporter mit zerstochenen Reifen und ausgebrannte Busse, die von Panzern zur Seite gedrückt worden sind.

„Die Regierung ist ein Haufen Mörder, das sind keine Menschen mehr“, sagt einer der Studenten. „Wie oft ist uns versichert worden, die Armee ist Teil des Volkes und wird das Volk nicht unterdrücken, Das wird die Geschichte ihnen nicht verzeihen. Das Volk wird das nicht verzeihen.“ Die Studenten riefen die Arbeiter zum sofortigen Generalstreik auf, ab Mittag blieben die Läden überall geschloßen, der öffentliche Verkehr steht still. Vor dem Campus haben Armeeinheiten Stellung bezogen. Viele Menschen tragen schwarze Trauerarmbinden, die Unilautsprecher spielen Chopins Trauermarsch und die Internationale. Es fällt schwer, Worte für das Unfaßbare zu finden,

(ergänzt mit wps/dpa)