„Schlimmer als die Warlords“

■ Regierung hat Kontrolle über Ereignisse verloren / Machtkampf nicht beendet

„Niemals zuvor hat die chinesische Armee auf unschuldige Menschen geschossen“, erklärte Professor Yang Xianyi, Mitglied der Pekinger Akademie der Sozialwissenschaften, der taz mit wuterfüllter Stimme am Telefon. „Dies ist das größte Verbrechen, das jemals am chinesischen Volk verübt worden ist, schlimmer als die Taten der Warlords, der Kuomintang oder gar der einrückenden japanischen Armee.“

Weit mehr als die vorausgegangen Studentenproteste, hat dieses Blutbad China an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht, der am Ende die Regierung Deng Xiaoping stürzen und sogar die Existenz der Kommunistischen Partei gefährden könnte. Die ganze vergangene Woche hindurch hatte die chinesische Regierung versucht, die Studenten mit allen psychologischen Mitteln zum Verlassen des Tiananmen zu bewegen. Doch die Studenten waren geblieben. So war es denn nur eine Frage der Zeit, bis die chinesische Führung ihre Autorität wiederherstellen würde. Daß die Regierung die Truppen einsetzen würde, war allgemein erwartet worden.

Doch niemand erwartete, daß die Armee auf unschuldige Bürger schießen würde. Dies ist nichts anderes als ein Zeichen dafür, daß die Regierung endgültig die Kontrolle über die Ereignisse verloren hatte. Es gab allerdings einen kleinen ominösen Hinweis auf das, was folgen sollte, als Deng Xiaoping, der seit dem Besuch Gorbatschows nicht mehr öffentlich aufgetreten war, vor wenigen Tagen mit dem Spruch zitiert wurde, „der Tod von 200 Menschen könnte weitere 20 Jahre der Stabilität einbringen“.

In den letzten Tagen hatten sich die Anzeichen verstärkt, daß hinter den Szenen ein heftiger Machtkampf entbrannt war. Trotz der äußeren Zeichen, daß die Hardliner den Kampf der Fraktionen gewonnen hatten und den Abgang des Parteisekretärs Zhao Ziyang, Verteidigungsminister Qin Jiwei und des Propagandachefs Hu Yili - die alle unter Hausarrest stehen sollen - vorbereiteten, ist der interne Kampf um die Macht in der chinesischen Führung noch nicht beendet. Die gegen die drei vorgebrachten Anschuldigungen wurden intensiv diskutiert. Anfängliche Anschuldigungen wegen gegenrevolutionärer Aktivitäten wurden abgeschwächt, als hohe Beamte zur Verteidigung des Parteisekretärs eintraten.

Doch das offensichtlichste Zeichen für den Fortgang dieses internen Machtkampfes, ist die Weigerung Zhao Ziyangs sich öffentlich zu seinen „Fehlern“ zu bekennen; womit er gleichzeitig die Möglichkeit seiner zukünftigen Rehabilitation ausschließt.

Dafür sprechen auch die wachsenden Spekulationen, daß Deng Xiaoping schwer krank ist und die von ihm schon einmal pensionierte alte Garde wieder zum Sprung an die Macht bereit ist. Chinesischen Quellen zufolge hat Deng in letzter Zeit zwei Herzattacken erlitten, die seinen Krankenhausaufenthalt zur Folge hatten. All dies erinnert an Maos letzte Tage, als dieser noch fünf Jahre an der Macht blieb, während die Parteiführung in einem erbitterten Machtkampf degenerierte, der am Ende schließlich von der Armee beendet wurde. Daß Deng in der vergangenen Woche sieben 80jährige Führer, die er auf dem Parteitag vor zwei Jahre in die Pension geschickt hatte, nun wieder mit Ehrenposten zu seiner Rettung im Kampf mit der jüngeren Politikergenerationen zur Hilfe holen mußte, hat dem Ansehen der Partei ebenfalls geschadet. Die Zeit ist nie auf der Seite der Gerontokratien.

Nachdem die Studentenproteste aufgrund der allgemein geschwächter Moral, physischer Ermüdung und Verwirrung schon an Dynamik verloren hatten, wird das Vorgehen der Armee diese Proteste neu beleben. Die Unterstützung der Öffentlichkeit wird schnell anwachsen und Massendemonstrationen werden von neuem beginnen. „Der Anblick von so vielen Chinesen der nächsten Generation, ermordet auf der Straße, wird eine neue gewaltige Protestwelle kreieren, die die gegenwärtige Führung mit sich wegreißen wird“, sagt Han Dong Fang, der Führer der Autonomen Föderation der Arbeiter von Peking, der zu einem sofortigen Generalstreik aufgerufen hat.

Deng Xiaoping und Li Peng sind diesmal zu weit gegangen.

Larry Jagan