„Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“: Tausende Tote in Peking

■ Maos Volksbefreiungsarmee (Zitat oben) schießt sich den Weg durch Peking frei / Massaker an Unbewaffneten / Über 4.000 Opfer? / Zehntausend Verletzte / Auch gestern morgen noch Kämpfe im Stadtzentrum / In der Nacht zuvor eine Millionen auf den Straßen / Massenproteste in Hongkong

Peking (taz/afp/ap) - Der Platz des Himmlischen Friedens ist zum Schlachthof geworden. Die chinesische „Volksbefreiungsarmee“ beendete den Pekinger Frühling gestern mit einem Blutbad. Mehrere tausend Menschen fielen dem Wüten der Soldaten in der Hauptstadt zum Opfer, die Zahl der Verletzten wird auf etwa 10.000 geschätzt. Peking am Sonntag: Eine Stadt nach dem Bürgerkrieg.

„Meine Regierung hat den Verstand verloren“, so die Reaktion eines Arztes auf das Gemetzel des Militärs. „Selbst die 'japanischen Teufel‘ sind nicht so grausam gegen das chinesische Volk vorgegangen“, so ein Arbeiter. Die „Volksbefreiungsarmee“ befreite die Führung Chinas gestern von ihrem Volk. Zwei Wochen nach Ausrufung des Kriegsrechts in Peking, schossen sich die Soldaten in der Nacht zum Sonntag ihren Weg zum Tiananmen-Platz frei. Panzer rasten durch Barrikaden und zermalmten Studenten, Soldaten erschossen dreijährige Kinder, töteten Mütter mit Kopfschüssen, Militärtrupps gaben Salven aus automatischen Waffen ab, die unbewaffnete flüchtende Menschen ummähten. Stundenlang lagen die Leichen in den Straßen von Peking, in den Krankenhäusern warteten Schwerverletzte auf blutdurchträngten Matratzen in den Gängen auf Hilfe. Sprecher der Studenten sprachen am Sonntag gegenüber der taz von mindestens viertausend Toten. Eine Zählung von 'afp‘ in den Krankenhäusern der Hauptstadt ergab zunächst eine Zahl von 1.400 Toten.

Immer wieder stellte sich die aufgebrachte Menge in der Nacht dem anrückenden Militär entgegen, Hundertausende bildeten Barrikaden, Dutzende von Militärfahrzeugen, Panzern, Transportern gingen in Flammen auf. Mehrere Soldaten wurden von den BürgerInnen Pekings erschlagen, einen Uniformierten lynchten die Demonstranten an einer Brücke. Auf BewohnerInnen der Innenstadt, die von Balkons und Fenstern aus gegen das aufmarschierende Militär protestierten, gaben vorbeiziehende Soldaten scharfe Schüsse ab.

Der Aufruhr ging gestern auch auf die Provinz über, wo Hundertausende wegen der Pekinger Ereignisse auf die Straße strömten. In Schanghai errichteten sie Fortsetzung auf Seite 2

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Barrikaden auf den Hauptverkehrsstraßen, während Demonstranten in Wuhan eine wichtige Eisenbahnstrecke blockierten und in Kanton den Verkehr behinderten. Allein in Nanking beteiligten sich über 100.000 Menschen an einer Massenkundgebung. In Hongkong demonstrierten Hunderttausende.

Die schwerbewaffneten Soldaten in voller Kampfmontur waren in Peking kurz nach zwei Uhr am Sonntag morgen von drei Seiten auf den Platz des Himmlischen Friedens gestürmt, der von Studenten wochenlang mit Sitz- und Hungerstreiks blockiert worden war. Mit Tränengas und Schnellfeuergewehren wurden die letzten Demonstranten in die Flucht geschlagen, und Panzer bezogen Stellung, wo die Studenten Tage zuvor ein Abbild der New Yorker Freiheitsstatue errichtet hatten. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens und Umgebung kam es

nach der nächtlichen Armee-Offensive auch den ganzen Sonntag über zu sporadischen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und dem Militär. Augenzeugen berichteten, noch um 10.30 Ortszeit hätten etwa 100 Soldaten mit Maschinengewehren in eine Gruppe von mehrern hundert Menschen gefeuert, die vom Tiananmen abzog. Mindest 30 Menschen seien zusammengebrochen. Ein Armeekonvoi aus 10 Panzern und 17 Panzerfahrzeugen verließ am Sonntag abend den Platz des Himmlischen Friedens und begab sich stadtauswärts. Auch dabei gaben Soldaten immer wieder Schüsse auf Passanten abgegeben. Augenzeugenberichten zufolge folgten mehrere hundert Radfahrer dem Konvoi. Die BBC meldete, daß die Armee in einige Universitäten einmarschiert sei. Die Menge in der Stadt beschimpfte die Soldaten in Sprechchören immer wieder als „faschistische Hunde“ und „Volksverräter“. Immer wieder wurde in Schmährufen auch der Name von Ministerpräsident Li Peng laut, der

hinter der Entscheidung zum Armee-Einsatz vermutet wird. Gestern ließ sich weder im Rundfunk noch im Fernsehen ein Spitzenpolitiker sehen, was nach Einschätzung von Beobachtern auf einen anhaltenden Machtkampf in der politischen Führung schließen läßt.

Ohne einen Hinweis auf das maßlose Vorgehen der Soldaten zu geben, hat die chinesische Presse am Sonntag das Massaker der Armee in der Nacht zuvor als Heldentat gerühmt. Die Sprachregelung lautete, konterrevolutionäre Unruhen seien niedergeschlagen und ein „großen Sieg im Kampf gegen den Aufruhr in der Hauptstadt“ errungen worden. In einer Fernsehsendung wurde eine Verlautbarung der Pekinger Stadtverwaltung verlesen, in der es hieß, die Soldaten hätten bei ihrem Einsatz äußerste Disziplin gewahrt: „Mit ihren heldenhaften Taten und wagemutigen Unternehmungen haben sie glühende Bewunderung und einhellige Unterstützung der Masse der Studenten und der Bevölkerung geerntet.“

ar