EINHEITSDICHTER - WELTNIVEAU

■ Volker Braun bekam den Berliner Literaturpreis verliehen und 50.000 Mark geschenkt

Zu schimpfen über die Auslobung von neuen Literaturpreisen, über zu niedrige und neuerdings zu hohe Dotierungen sich zu erregen, die Kompetenz der Jurys anzuzweifeln und gleichzeitig deren Eitelkeit zu entlarven, die sie übrigens mit den Autoren teilen, und vor allem die sträfliche Einfallslosigkeit letzterer immer wieder unermüdlich zu geißeln, bloßzulegen und anzuklagen - solche Predigten sind mittlerweile aus dem Literaturbetrieb genausowenig wegzudenken wie die Preisschreiberei selbst.

Nachdem am Sonntag in Berlin zum ersten Mal der Berliner Preis für deutschsprachige Literatur, ausgeschrieben für die Gattungen Lyrik und Epik, vergeben wurde und wieder nur die üblichen Preisochsen angetreten sind, und zwar nur neun Stück an der Zahl statt der vorgesehenen 14, weil einige kurzfristig abgesagt hatten, oder wie Herbert Achternbusch die dreitägige Veranstaltung im Literarischen Colloquium einfach schwänzten, sollten wir eigentlich lieber genauso beredt schweigen wie die Dichter an den beiden Lesetagen sprachlos redeten. Nur soviel: Einberufen wurden nach vorheriger Musterung durch die acht schiedsrichtenden KritikasterInnen schwerblütige deutsch-deutsche Männer, die Unveröffentlichtes oder Frischgedrucktes meist aus Lebenserinnerungsbeständen lasen: aus West-Berlin und „dem übrigen Bundesgebiet“ Jürgen Becker, Christian Geissler, Rolf Haufs, Günter Herburger und Peter Rühmkorf sowie der Ostbesuch Volker Braun, Fritz Rudolf Fries, Heinz Knobloch und Wulf Kirsten. Schon daß sie über Los gingen, ließ alle 3.000 Mark von der Stiftung Preußische Seehandlung einziehen. Der Sieger Volker Braun bekam noch mal lockere 47.000 Westmark draufgeschlagen, wovon er Zweidrittel auf ein zu schaffendes Konto des Umweltschutz-Aktivs des DDR -Schriftstellerverbandes abführen will. So weit, so nobel. So schnell, so lohnend - mehr Kohle gibt's nur noch bei Büchner.

Und jetzt loben wir einfach einmal: Wir preisen den Preisträger Volker Braun und freuen uns, daß er neben den vielen Ost-Belobigungen auch einmal wieder eine Ehrung in Westwährung sich ans DDR-Staatsbankkonto heften kann. Darauf, daß der reale Sozialist schon mehr Lorbeerlaub als Haare auf dem Dichterhaupt hat, konnte in diesem Fall leider keine Rücksicht genommen werden. Dieses schwere Schicksal teilt er schließlich mit den meisten seiner ausgestochenen Kollegen. Es gab also schon von daher überhaupt keinen Grund, Braun nicht gewinnen zu lassen.

Doch weiter in der Lobeshymne: Besonders gelungen - und sicherlich dem jugendlichen Ungestüm des 50jährigen Benjamin unter den neun verbliebenen Teilnehmern zu verdanken - ist Brauns kühner Einfall, einen einzigen, schwer assoziativen, ziemlich handlungslosen, hoch artifiziellen und realpathetischen bisher unveröffentlichten sogenannten „Bodenlosen Satz“ über zwanzig Seiten auszubreiten: mittels des einfachen aber effektvollen Tricks, reichlich Kommata, gelegentlich ein Semikolon und hin und wieder einen Gedankenstrich zu setzen, niemals aber auf den - trivialen Punkt zu kommen. Hierfür ist er sofort rückhaltlos zu bewundern. Schnell erfindet die Jury ein paar Vokabeln wie „Ge-schichte“, „Grabung“ usw., und die 3.000 D-Mark Begrüßungsgeld für jeden Teilnehmer dürften damit von Braun in seinem Bohrloch schon einmal abgearbeitet worden sein. Mit dieser kompromißlosen Unpunktlichkeit verweigert er sich nämlich glatt allen gängigen Werkbegriffen. „Das ist doch was“, um mit dem Dichter-Richter Alexander von Bormann zu sprechen.

Letzterer freute sich übrigens besonders, daß er eine gewisse buchstäbliche Affinität zwischen einem Karl und einer Klara in Brauns Schlangensatz erhascht hatte. Ja, und da die Buchstaben von „Karl“ im Namen von „Klara“ enthalten seien, folgerte der leidenschaftliche Logiker der Literatur, daß Klara dem Karl quasi aus den Rippen geschnitten sei.

Schon an diesem Beitrag läßt sich überdies erkennen, daß die - zwecks Erzeugung von Workshop-Atmosphäre - an jede Lesung sich anschließende Diskussion stets tiefschürfendes Weltniveau hatte. Und zwar selbst noch dann, wenn die schönen, beliebten und deutlichen Kritikerworte wie „Begrifflichkeit der Allegorie“, „Mythos“, „Traumtext“, „Erotik“, „Hoffnung“, „Aussichtslosigkeit“, „Sinnlichkeit der Schreibbiografie“, „Holocaust“, „Natur“, „Faschismus“, „Fortschritt“, „Krieg“, „Gesellschaft“ usw. einmal für einen kurzen Moment ihr silbrig-kostbares Geklingel einstellten.

Schön auch, daß anhand der Problematik von Karl und Klara die Frau als solche wenigstens in der Diskussion einen würdigen Rippenplatz fand. Hatten die sieben Vorschlags -Männer und die noch-nicht-einmal-Alibi-Frau in der Jury ansonsten doch das schier Unmögliche geschafft. Nämlich elf Jahre vor der Jahrtausendwende schnell noch einmal eine völlig frauenfreie Altherrenriege aufzutreiben. Aber wie gesagt - in der Diskussion war sie ja doch anwesend, die Frau, und in Volker Brauns Text auch. Dort trat sie auf zum Beispiel als „sachter, warmer Leib“, als „weiches Wesen“, als „ungebundene Erscheinung, die sich umherwarf wie in einem schweren Traum“, als „kochende Last“, als eine „mit gebleckten Zähnen und heraustretenden Augäpfeln, die eine schimmernde Feuchte bezog“ - als „Elende“ gar.

Das seien abgegriffene, abgeschmackte Vokabeln und Bilder, schimpfte da der böse Konkurrent Günter Herburger - das sei eben Kunst, rettete aber gottseidank die unbeirrbare Sybille Cramer den hohen Geist der Dichtung. Schließlich sollte ja in der sonntäglichen Urteilsbegründung einst unbedingt etwas von „Literatur als Ernüchterungsarbeit“, von „gedanklicher Schärfe“, von „künstlerischer Erfindungskraft“, vom „Anschreiben gegen falsches Bewußtsein“, von „subjektiver Erfahrung als Voraussetzung für eine menschliche Zukunft“, von „riskanter Offenheit, in der ästhetische Traditionen und gesellschaftliche Übereinkünfte aufgebrochen werden“, vorkommen. Aber das ist ja der Vorteil beim modischen Oversize-Look: alles paßt allen immer.

Volker Braun war der erste, der am Freitag morgen las. Seit Sonntag mittag ist er auch noch der beste. Überrascht war keiner. Von mir aus hätten es allerdings alle Neune werden können.

Gabriele Riedle